Frage an Katja Keul von Tim G. bezüglich Bundestag
Sehr geehrte Frau Keul,
danke für die Einladung zu der morgigen Veranstaltung. Ich habe soeben eine Anmeldung an die angegeben Adresse Ihres WK-Büros gesandt.
Eine kleine Nachfrage hätte ich aber in Bezug auf Ihre Bemerkung zu Ungarn: Woher beziehen Sie Ihre Kenntnisse? Wie kommen Sie darauf, dass dort das Parlament entmachtet sei? Die von Ihnen schilderte Meinung ist zwar in Deutschland weit verbreitet, aber welche Faktenkenntnisse stecken dahinter?
Ich bin sehr viel in Ungarn und mir gefällt dort auch nicht alles. Aber wie sich solche Behauptungen verbreiten, ist mir ein Rätsel. Können Sie irgend einen Akt nennen, mit dem das Ungarische Parlament ausgeschaltet worden sei? Hat Orban die Armee hineingeschickt und es gewaltsam aufgelöst? Warum sollte er das tun? Sein Bund junger Demokraten (FIDESZ) verfügt dort gemeinsam mit seinem Koalitionspartnern über eine in freien, gleichen und geheimen Wahlen erungene Zweidrittelmehrheit. Die letzten Parlamentswahlen wurden von der OSZE beobachtet und es gab keine Beanstandungen. Die einizigen beanstandungen kommen von der Opposition. Also warum sollte Orbán das Parlament ausschaltet?
Dass ich diese Beispiel gerade deshalb gewählt habe, weil Ungarn in Deutschland einen solch schlechten Ruf hat, und sogar dort das Parlament besser beteiligt wird als hierzulande, ist vielleicht nicht richtig angekommen? Das Urteil des Staatsgerichtshof bestätigt doch die Weisheit von Frau Dr. Merkel: Immer schön an die eigene Nase fassen! (Das sagte sie Anfang des Jahres im ZDF auf die frage, ob Ihrer Meinung nach Trump den Rassismuss in den USA anheizen würde.) Wollen wir uns vielleicht auf die rechte der legitimen Volksvertreungen in unserem eigenen Land konzentrieren, bevor wir uns ein Urteil über die in anderen Ländern erlauben?
Bis morgen mit besten Grüßen auch an Helge, mit dem mich besonders die eher traurige Geschichte des unvollendeten Niedersächsischen Transparenzgesetzes verbindet.
Sehr geehrter Herr Gerber,
vielen Dank für Ihre Anfrage und ich hoffe, dass es eine für sie gewinnbringende und interessante Veranstaltung zum Thema "Parlamente in der Pandemie" war.
Hinsichtlich meiner Bemerkung zur Entmachtung des ungarischen Parlaments ist es so, dass es in Ungarn im Rahmen der Pandemie-Bewältigung im Frühjahr und Herbst 2020 zu sogenannter Notstandsgesetzgebungen kam, die der Regierung Orbán Vollmachten zusprechen, die zu einer dauerhaften Aushöhlung der demokratischen Institutionen in Ungarn führen könnten. Unsere Kritik richtet sich dagegen, dass die Regierung als Gesetzgeber an die Stelle des Parlaments getreten ist. Sie konnte sich in ihren Verordnungen auch über bestehende Gesetze hinwegsetzen - und zwar so lange die sogenannte Gefahrenlage anhielt. Im November 2020 wurde die Regierung erneut ermächtigt, durch Verordnungen zu regieren, wenngleich nur für einen bestimmten Zeitraum. Dabei geht die Regierung nach der Ermächtigung weit über Maßnahmen zur Corona-Bekämpfung hinaus und hat bspw. per Verordnung verlangt, dass Kinder mit christlich-konservativen Werten erzogen werden und eine christliche Interpretation der Geschlechterrolle vorherrscht. Entscheidungen also, die nichts mit der Pandemie-Bewältigung zu tun haben.
Für uns bleibt festzuhalten: Maßnahmen, die andernorts in funktionierenden Demokratien gerechtfertigt sein mögen, treffen in Ungarn auf ein politisches System, in dem jetzt schon die Institutionen der Gewaltenteilung geschwächt sind und die Macht der Regierungspartei zementiert ist. Hier ist besondere Vorsicht und Aufmerksamkeit geboten. Eine zeitlich unbegrenzte Einschränkung demokratischer Institutionen oder der Pressefreiheit rettet keine Menschenleben und widerspricht den europäischen Werten.
Mit freundlichen Grüßen,
Katja Keul