Frage an Juliane Nagel von Berit W. bezüglich Politisches Leben, Parteien
Sehr geehrte Frau Nagel,
Es versammeln sich zunehmend Menschen in deutschen Städten, um ihren Unmut gegen die Maßnahmen zur Eindämmung des Corona-Virus kundzutun. In Dresden tun sie dies nach einem leider allzu bekannten Vorbild und formieren sich zu Spaziergängen, bei denen Sicherheitsabstand und Maskenpflicht schon aus programmatischen Gründen oftmals nicht eingehalten werden. Auch wenn diese sogenannte „Bewegung“ aus verschiedensten Menschen und Gruppen besteht, so lässt sich doch eine Tendenz zu Verschwörungstheorien erkennen, die von Rechtsradikalen genutzt und befeuert werden. Durch ihre (soziale) Medienpräsenz drängen diese Gruppen andere wichtige soziale und politische Themen wie die Lage von Geflüchteten in den Hintergrund. Natürlich muss die Versammlungs- und Meinungsfreiheit gewahrt und Bürger*innenbeteiligung weiterhin möglich sein. Viele Aktivist*innen sind sich jedoch auch trotz der Lockerungen der Bestimmungen in Sachsen der ernsten Lage bewusst und verzichten auf Menschenansammlungen und Körperkontakt. Die Bandbreite des politischen Protests und der kreativen Möglichkeiten hat sich in den letzten Monaten gezeigt. Es ist ungemein frustrierend, wenn Verschwörungstheoretiker*innen, Rechtsradikale und Demokratiefeinde keinerlei Dankbarkeit für alle in systemrelevanten Berufen arbeitende Menschen zeigen und dabei ihre Positionen verbreiten können, ohne Gegenwind zu erhalten.
Wie positionieren Sie sich zu diesen Demonstrationen?
Was kann Ihrer Meinung nach getan werden, um bei diesen Menschen Aufklärungsarbeit zu leisten und was können Sie als Politiker*in für die (un)freiwillig Leisen und Stimmlosen konkret tun?
Sehr geehrte Frau W.,
haben Sie vielen Dank für ihre Mail, die mir aus dem Herzen spricht.
Auch ich mache mir Sorgen, die angesprochenen Versammlungen sind durch verschwörungstheoretische und antisemitische Aussagen geprägt. In manchen Städten werden sie durch einschlägig bekannte Rechte angeführt. Hygieneauflagen für die Durchführung von Versammlungen werden systematisch ignoriert. Menschen, die Zweifel und Kritik an den Corona-Einschränkungen haben, finden sich Seite an Seite mit rechten Ideologen und Neonazis wieder und ignorieren Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus. Hier braut sich etwas Gefährliches zusammen. Es ist an uns darauf zu reagieren, rechter Propaganda und Verschwörungstheorien (wie z.B. dass Bill Gates die WHO kontrollieren würde und Corona in eine totalitäre Diktatur münde) zu widersprechen und Rechten den Raum zu nehmen.
Ich bin auch bei ihnen: Es gibt viele Gründe aktuelle staatliche Maßnahmen zu kritisieren: Die gesellschaftliche Spaltung zwischen arm und reich wird gerade jetzt sichtbar, wo vielen Menschen und Kleingewerben Einkommen wegbrechen, Menschen unter zweifelhaften Arbeitsschutz-Bedingungen in Großunternehmen weiterarbeiten müssen oder systemrelevante, strukturell unterbezahlte Berufe mit Einmalzahlungen abgespeist werden. Auch die Einschränkung von Grundrechten darf nicht einfach so hingenommen werden. Grundrechte und soziale Rechte verteidigt man aber nicht mit Demokratiefeinden und Antisemiten!
Es gibt nun viele Strategien im Ungang. In Orten, wo ganz offenkundig organisierte Rechte die Ansammlungen anführen wie in Aue oder Chemnitz muss man sich entgegenstellen, und von denen, die zweifeln einfordern, dass sie sich klar gegen rechts positionieren und Menschen- und Demkratiefeindlichkeit nicht dulden. Das müssen wir von den Menschen verlangen. Auch Aufklärung und Fakten können ein probates Mittel sein. Ich habe hier bei der Landeszentrale für politische Bildung etwas gefunden: https://www.lpb-bw.de/verschwoerungstheorien
Auch kann es hilfreich sein, wenn verantwortliche politische Akteure, Bürgermeister o.ä. sich laut und deutlich positionieren. Und es ist sicherlich nie falsch die eigenen, sozialen, humanistischen Forderungen zu artikulieren und den Rechten nicht allein die Straße zu überlassen. In Leipzig habe ich bereits Kundgebungen angemeldet in den letzten Wochen. Die Differenz hier ist, dass die Teilnehmer*innen Corona nicht leugnen, sondern durchaus besonnen agieren und sich und andere schützen und trotzdem gemeinsam für ihre Sache einstehen.
Ich hoffe, dass ich ihnen ein paar Ansatzpunkte geben konnte. Bleiben sie gesund und kritisch!
Juiane Nagel