Frage an Jörg Geibert von Dalia E. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
1. Wie beurteilen Sie das Wählerverhalten sowie die daraus resultierenden Wahlergebnisse in den jeweiligen Landtagswahlen und welche eigenen Schlüsse ziehen Sie daraus in Bezug auf schwindende Mehrheitsverhältnisse der so genannten Volksparteien?
2. Sollte das Wahlsystem geändert werden? Wenn ja, wie kann es konkret demokratisch und verfassungsrechtlich reformiert werden, um Politik auch künftig dazu zu befähigen, zu gestalten und tragfähig zu regieren?
3. Teilen Sie die These, dass dem Denken einer Vielzahl der Politiker/-innen in Legislaturperioden dadurch entgegen gewirkt werden könnte, indem man sachthemenbezogene Politik praktiziert und hierbei als Politiker/-in auch bereit ist, Fraktionszwänge aufzugeben?
4. Wie beurteilen Sie das Thema "elektronische Wahl"?
5. Wie schätzen Sie die These ein, dass Koalitionsverträge das eigentliche politische Doing behindern, statt zu fördern?
Sehr geehrte Frau Eis,
unabhängig vom konkreten Wahlausgang ist im Hinblick auf die beiden
jüngsten Landtagswahlen erfreulich, dass sehr viele bisherige
Nichtwähler zur Wahl gegangen sind und damit die Wahlbeteiligung so hoch
lag, wie zuletzt Anfang der 90er Jahre.
Wenig erfreulich ist natürlich, dass es ganz offensichtlich den
etablierten Volksparteien nicht gelungen ist, mit ihren Themen neue
Wähler oder solche, die bislang extrenere Parteien gewählt haben, an
dich zu binden. Es ist eine Aufgabe an die Parteien, und auch eine
mediale Aufgabe, Befindlichkeiten und Sorgen zu erkennen, Lösungen
anzubieten und diese transparent zu erläutern. Der Dialog mit allen
Wähler- und Nichtwählerschichten erscheint mir außerordentlich wichtig.
Eine Änderung des Wahlsystems erscheint mir weder notwendig noch
sinnvoll. Die hohe Wahlbeteiligung hat ja gerade gezeigt, dass durchaus
eine Bereitschaft besteht, an den Wahlen teilzunehmen; es gilt jedoch
die konkreten Angebote und Lösungsansätze besser herauszuarbeiten und
zur Diskussion zu stellen.
Ich glaube nicht, dass es gelingt, auf Landes- und Bundesebene ein rein
an Sachthemen orientiertes Stimmverhalten der "Politik" zu praktizieren.
Die besondere Abhängigkeit der Exekutive erfordert eine Verlässlichkeit
gerade auch im legislativen Bereich. Auch der Wähler hat einen Anspruch
darauf zu erkennen, welche Partei mit welcher Zielstellung antritt.
Zufällige und damit letztlich vor der Wahl undurchschaubare
Mehrheitsbildungen erscheinen mir insoweit nicht geeignet, das Vertrauen
in die Politik zu stärken. Eine Begrenzung der Legislaturperioden
erscheint mir jedoch ein denkbarer Ansatz zur Erhöhung der
Unabhängigkeit und mithin zur stärkeren Sachorientierung.
Die "elektronische Wahl" erscheint mir nicht als Lösungsmodell für die
von Ihnen in den Blick genommenen Probleme. Unabhängig von den
gegebenenfalls bestehenden größeren Manipulationsmöglichkeiten, muss es
das Ziel einer gelebten Demokratie sein, für das Eintreten von Zielen so
zu begeistern, dass ein Gang zur Urne alle vier bis fünf Jahre keine
Hürde darstellt, zumal es ja auch die Möglichkeit der Briefwahl gibt.
Unsere Demokratie lebt vom Kompromiss, darin lässt sich auch ein
Koalitionsvertrag einordnen. Selbstverständlich sind Wort und Tat einer
sich zur Wahl stellenden Partei besser einzuordnen, wenn es keiner
Koalition bedarf. Unsere demokratische Tradition beruht auf dem
Verhältniswahlrecht, andere Länder mit gleichfalls alten demokratischen
traditionen praktizieren das Mehrheitswahlrecht, welches in einem
gewissen Umfang die Bildung von Koalitionen vermeidet. Die Aufgabe
unserer Prinzipien würde jedoch einen breiten gesellschaftlichen Konsens
erfordern, den ich nicht sehe.
Mit freundlichen Grüßen
Jörg Geibert