Laut dem Hersteller von Taurus Marschflugkörpern stimmt Ihre Aussage nicht. Warum lügen Sie uns an? Wollen Sie die Zögerlichkeit des Kanzlers decken? Oder welchen Grund haben Sie?
Sehr geehrter Herr J.,
haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht.
Zunächst - und das ist mir ganz wichtig - ist mir bewusst, dass ich mich am Freitag, den 19.01., im DLF noch präziser hätte ausdrücken müssen, um Missverständnisse zu vermeiden. Dies hole ich gern jetzt nach. Das Wichtigste gleich vorweg: Nach nochmaligem Kontakt am 22.01.24 mit MBDA, dem TAURUS-Hersteller, kann ich Ihnen mitteilen, dass – wie von mir antizipiert – vermeintlich "kurzfristiges Anschieben" bedeutet, dass nach Auslösung der Bestellung nach 3-4 Jahren die ersten neuen Marschflugkörper ausgeliefert werden könnten.
Zur Nachbeschaffung von TAURUS: Nachproduktion dauert, lt. Hersteller, etwa 3-4 Jahre
Ein wesentlicher Kern meiner Argumentation ist, dass ich mich gegen die TAURUS-Lieferung ausspreche, da wir als Bundesrepublik völkerrechtlich verbindliche Pflichten gegenüber der NATO haben, um die Landes- und Bündnisverteidigung aufrechtzuerhalten. Dies schließt u.a. die Vorhaltung bestimmter militärischer Fähigkeiten ein, darunter fallen auch die TAURUS-Marschflugkörper. Dazu hat sich Deutschland verpflichtet.
Die Bundeswehr verfügt derzeit nach offiziellen Angaben über 600 Marschflugkörper, davon sind ca. 150 einsatzfähig. Die Überholung sollten wir daher rasch einleiten, dafür werde ich mich einsetzen.
In meiner Abwägung halte ich diese derzeit einsatzfähigen Marschflugkörper für o.a. Verpflichtungen im Rahmen der Landes- und Bündnisverteidigung für unverzichtbar. Natürlich könnte man auch erwägen, der Ukraine Kontingente der „abgelaufenen“ TAURUS ohne Garantie, zur Verfügung zu stellen
Ganz generell gilt im Verlauf des Krieges für die Ukraine-Hilfen: Wir sind in einem Spannungsfeld – einerseits den Eigenschutz nicht zu gefährden, andererseits die Ukraine umfänglich zu unterstützen. Zur Ehrlichkeit der Debatte gehört, dass wir uns dieses Spannungsfeldes immer bewusst sind.
Nun zielte die Hauptkritik an mir darauf, dass der TAURUS-Hersteller MBDA im November 2023 und als Reaktion auf das Interview am 19. Januar 2024 betonte, man könne die Nachproduktion kurzfristig wieder anschieben. In aller Deutlichkeit: Militärische Beschaffung funktioniert nicht wie eine Bestellung bei Amazon: Ein Klick und morgen geliefert. Und was bedeutet denn nun eigentlich ein „kurzfristiges Anschieben der Produktion“ bei der Nachbeschaffung von TAURUS? In diesem konkreten Fall – und dies hat mir das Unternehmen MBDA am 22.01.2023 bestätigt – sprechen wir etwa von 3-4 Jahren und dies unter der Voraussetzung, dass das Unternehmen stabile Lieferketten für die Komponenten etablieren kann. Geräte und Produktionslinie sind zu großen Teilen noch verfügbar und überwiegend noch einsetzbar.
Hinzu kommt natürlich, dass das Unternehmen durch die Bundesregierung beauftragt werden muss.
Auch die Generalüberholung der bereits vorhandenen, derzeit nicht einsatzfähigen Marschflugkörper wird nicht in wenigen Monaten erledigt sein.
Mir war und ist bewusst, dass dies keine angenehme Wahrheit ist; allerdings im Sinne einer Transparenz und einer Offenheit der Öffentlichkeit gegenüber ist es mir wichtig, auf die Probleme hinzuweisen anstatt in einer Kurzmeldung einen falschen Eindruck zu erwecken und zu suggerieren, dass die Nachbeschaffung von TAURUS wie eine Amazon-Bestellung unverzüglich erfolgen könne. Dies ist schlicht und ergreifend nicht möglich und falsch.
Dennoch nehme ich die Kritik an, mit meiner Aussage den Eindruck erweckt zu haben, eine Nachproduktion von TAURUS wäre nicht mehr möglich. Dies war nicht meine Absicht.
Zur Unterstützung der Ukraine: Bedarfe vor Ort liegen auf Flugabwehr und Artilleriemunition
Um meine Argumentation zu TAURUS nachvollziehen zu können, ist es wichtig, die aktuellen Bedarfe der Ukraine einzubeziehen, insbesondere weil sich die öffentliche Debatte in Deutschland enorm stark auf TAURUS verengt und dabei zum Beispiel Erfordernisse der Flugabwehr und der Artilleriemunition weniger stark gewichtet.
Die deutsche und die europäische Unterstützung der Ukraine wird sich in den kommenden Monaten und Jahren vor allem auf die Flugabwehr (Systeme und Bewaffnung) und die Lieferung von Artilleriemunition konzentrieren müssen: Dass sich russische Drohnenangriffe derzeit stark auf die ukrainischen Grenzregionen fokussieren, erklärt sich vor allem damit, dass weiter im Landesinneren westliche Flugabwehr stationiert ist, die enorm erfolgreich wirkt und so jeden Tag ziviles Leben sowie kritische Infrastruktur schützt.
Zugleich leidet die ukrainische Armee derzeit unter einem enormen Mangel an Artilleriemunition, Schätzungen gehen davon aus, dass die Feuerrate der ukrainischen Streitkräfte gegenüber den russischen bei 1:5 bis 1:6 liegt. Hier wird es eine gesamteuropäische Anstrengung benötigen, um diese Bedarfe der Ukraine zu erfüllen. Hier müssen wir mehr tun, denn teilweise wird auch in Deutschland die Erweiterung der Produktion durch kommunale Parlamente behindert.
Dabei sollte der Blick auch auf unsere europäischen Nachbarn gehen, die teilweise sehr geringe Summen zur Verfügung stellen und dennoch als Vorbild genannt werden (Frankreich zum Beispiel stellt etwas über 500 Mio. € an Militärhilfe zur Verfügung, Deutschland dagegen 17 Mrd. €).
Die taktischen Bedarfe der Ukraine liegen derzeit auf ganz anderen Feldern – ohne natürlich in Abrede stellen zu wollen, dass Marschflugkörper mit weitreichenden Distanzen der Ukraine operativ oder auch taktisch weiterhelfen würden.
Zum Beschaffungswesen der Bundeswehr: Bestellungen sind nicht das Problem, sondern mangelnde Produktionskapazitäten
Zugleich ist die TAURUS-Debatte ein Teil der weitaus größeren und gewichtigeren Beschaffungsdebatte und hier müssen wir – trotz der enormen Fortschritte durch das Sondervermögen und der Zeitenwende – selbstkritisch sein. Dabei ist wichtig zu unterstreichen, dass das Kernproblem weniger die Beschaffung oder die Bestellungen (etwa durch die Bundeswehr) sind, sondern die Produktionskapazitäten. Dass die Produktionskapazitäten nicht existieren, liegt u.a. an der jahrzehntelangen Unterfinanzierung der Bundeswehr (zum Vergleich: in den Jahren 2010-2020 lag der Anteil der Verteidigungsausgaben bei durchschnittlich 1,21% des BIP). Seit dem Antritt der Ampelregierung liegen wir über diesem Durchschnitt, 2021 lag der Anteil bei 1,33%, 2022 bei 1,39%, 2023 bei 1,49% und 2024 mit dem Sondervermögen wird Deutschland das 2%-Ziel erreichen. Damit die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie aber kurzfristig Produktionskapazitäten aufbauen und mittel- bis langfristig vorhalten kann, müssen wir auch künftig das 2%-Ziel einhalten, wozu wir uns als Koalition im Bundeswehr-Sondervermögensgesetz auch verpflichtet haben.
Neben der finanziellen Sicherheit braucht die Sicherheits- und Verteidigungsindustrie jedoch auch eine langfristige, legislaturübergreifende Beschaffungsplanung, die regierungsseitig aus dem BMVg koordiniert werden muss. Hierzu müssen auch haushalterische Rahmenbedingungen geschaffen werden, um überjährliche Planungen im Rahmen der verfassungsrechtlichen Vorgaben zu ermöglichen. Nur so schaffen wir die Voraussetzungen für eine resiliente Sicherheits- und Verteidigungsindustrie, um einerseits die Bundeswehr nachhaltig zu stärken und um andererseits die Ukraine langfristig zu unterstützen. Parallel dazu werden wir gemeinsame europäische Beschaffungsprojekte anschieben müssen und vieles mehr.
Mir ist dabei bewusst, dass diese Maßnahmen nicht einfach umsetzbar sind. Vor allen Dingen braucht es ein weiter verändertes Mindset in der Gesellschaft und auch in der Politik. Sicherheit darf nicht gegen andere politische Ziele neutral abgewogen werden, denn Sicherheit ist das Fundament unseres Gemeinwesens und jeder gesellschaftlichen Entwicklung. Damit die nötigen Entwicklungen eingeleitet werden, brauchen wir eine ehrliche Analyse, die auch unbequeme Wahrheiten ausspricht und nicht auf den schnellen Applaus aus ist.
Bitte entschuldigen Sie, dass ich etwas ausgeholt habe, allerdings erfordert ein solch komplexes Thema auch eine ausführlichere Antwort, gerade um Missverständnisse zu vermeiden.
Mit freundlichen Grüßen
Johannes Arlt