Frage an Ingo Wellenreuther von Dorothea S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Wie gedenken SIE künftig für jeden Bürger überprüfbar sicherzustellen, daß Politik nicht einseitig beeinflußt wird durch finanzstarke Interessenvertreter? Damit meine ich nicht nur die Offenlegung von Parteispenden, sondern die direkte Einflußnahme z.B. auf Gesetzesentwürfe. Es liegt auf der Hand, daß Lobbyarbeit effektiver ist, je personal- und zeitintensiver und professioneller sie betrieben wird, und daher ihr Erfolg von der Finanzkraft derjenigen abhängt, die dahinterstecken. Allgemein bekannte Beispiele sind der Dieselskandal und der Cum/Ex-Steuerbetrug - hingegen wurden meines Wissens die hunderttausende Bürger, die gegen TTIP und CETA auf die Straße gingen, weder aktiv befragt noch in ähnliche Entscheidungen wie z.B. zu JEFTA einbezogen.
Sehr geehrte Frau S.,
vielen Dank für Ihre Nachricht vom 1. September 2017.
Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland wird durch Legislative, Judikative und Exekutive gestaltet. Insbesondere sind es unser Grundgesetz und die dazugehörigen Gesetze und Verordnungen, welche den politischen Gestaltungsspielraum bestimmen.
Lobbyismus bezeichnet eine Form der Interessenvertretung in Politik und Gesellschaft. Die soziale Marktwirtschaft in unserem Land braucht den politischen und gesellschaftlichen Konsens. Vor diesem Hintergrund ist es unabdingbar, dass die Wirtschaft mit der Politik darüber diskutiert, wie Rahmenbedingungen angepasst und verändert werden müssen. Die Entscheidungsträger im Deutschen Bundestag und in den Ministerien sind auf diesen Austausch und Dialog sogar angewiesen. Sie fordern ihn aktiv ein, um aus unterschiedlichen Blickwinkeln in Erfahrung zu bringen, wie sich die Gesellschaft, Industrie und Wirtschaft verändern und was beispielsweise die Unternehmen brauchen, um Arbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten. Darüber hinaus nutzen viele gemeinnützige Organisationen Lobbyarbeit zum Einsatz für das Gemeinwohl. Sie versuchen die Interessen derer zu wahren, die nicht in der Lage sind für sich selbst zu sprechen, wie beispielsweise der Deutsche Kinderschutzbund als Lobby für Kinder.
Zudem sehen die Geschäftsordnungen des Bundestages und der Bundesregierung ausdrücklich die Mitwirkung von Interessenverbänden vor. Deren Vertreter können von Ausschüssen des Bundestages um Stellungnahme gebeten werden, sie können in öffentlichen Anhörungen Auskunft geben und in Enquete-Kommissionen berufen werden. Ministerien sind gehalten, bei der Vorbereitung von Gesetzen Vertreter der Spitzenverbände hinzuzuziehen. Tatsächlich wird der Sachverstand der Verbände regelmäßig in Anspruch genommen. Damit wird die Gefahr vermindert, dass Gesetze unvollständig oder fehlerhaft sind. Was oftmals vergessen wird, ist die herausgehobene Stellung der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände innerhalb der Verbände. Knapp ein Drittel der Arbeitnehmer ist gewerkschaftlich organisiert. Art. 9 Abs. 3 GG garantiert die Koalitionsfreiheit, das Recht, "zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden". Auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände betreiben "Lobbyismus", auch wenn dies in der Gesellschaft häufig anders wahrgenommen wird.
Darüber hinaus kann ich Ihnen bezüglich der Bürgerbeteiligung bei CETA und TTIP folgendes mitteilen:
Die Globalisierung braucht Regeln und Standards. Daher wollen wir CETA mit Leben erfüllen und weiterhin ein Freihandelsabkommen mit den USA. Bürger kann man von Dingen am besten dann begeistern, wenn man sie selbst mit Begeisterung und Überzeugung entschlossen und verantwortungsvoll forciert. Dies gilt auch für den Freihandel. Wir wollen daher Abkommen schließen, die den Freihandel konstruktiv und fair voranbringen. Gerade Deutschland, als eine der erfolgreichsten Exportnationen, lebt von den positiven Aspekten des Freihandels. Auch weltweit haben Handel und Globalisierung viel Positives ermöglicht. Seit den 90er Jahren geht beispielsweise die globale Ungleichverteilung der Einkommen erstmals seit der Industriellen Revolution Anfang des 19. Jahrhunderts zurück. Verantwortlich ist dabei vor allem der immense Aufholprozess in Südostasien, eine Region, die stark in den Welthandel eingebunden ist.
Durch den Abbau von Handelsbeschränkungen kann die Globalisierung auch weiter ein wichtiger Wachstumsmotor sein. Freihandel ist kein „Null-Summen-Spiel“, bei dem der Zugewinn für den einen nur durch Verlust eines anderen ermöglicht werden kann. Daher wird sich die Europäische Union weiter für freien Handel mit fairen Regeln und gegen zunehmenden Protektionismus einsetzen. Wir wollen, dass wir auch gemeinsam als EU das zukünftige Wirtschaften auf Grundlage unserer eigenen Werte und Standards gestalten. Die Europäische Union muss bei der Verhandlung und dem Abschluss von Freihandelsabkommen handlungsfähig bleiben. Verhandlungsansätze sehen wir dabei sowohl auf der globalen Ebene über die Welthandelsorganisation (WTO)/Doha-Runde, aber auch über einzelne, passgenauere Abkommen mit Staatengruppen oder Staaten. Jüngst haben wir mit dem Wirtschafts- und Handelsabkommen der EU mit Kanada (CETA) das bisher fortschrittlichste Freihandelsabkommen der EU unterzeichnet. CETA modernisiert den Investitionsschutz durch die Errichtung unabhängiger Investitionsgerichte. Darüber hinaus wird durch CETA u. a. der Marktzugang für europäische Unternehmen in Kanada erheblich verbessert. Weitere wichtige Freihandelsinitiativen sehen wir u. a. mit Japan, Mexiko oder dem MERCOSUR. Wir würden es auch begrüßen, wenn sich die USA entschlössen, die Verhandlungen zu TTIP wieder aufzunehmen. Zudem steht auch die Definition der Handelsbeziehungen zum Vereinigten Königreich für die Zeit nach dessen EU-Austritt voraussichtlich schon bald auf der Tagesordnung.
Für Rückfragen stehe ich gerne zur Verfügung.
Mit freundlichen Grüßen
Ingo Wellenreuther