Frage an Ingo Wellenreuther von Nico N. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Moin!
Laut diesem Artikel http://www.readers-edition.de/2009/04/25/vom-tisch-volksabstimmung-volksbegehren-volksentscheid/ befürchten Sie, dass die direkte Demokratie zu einer Abwertung der Parlamente führe. Ich wüsste gerne von Ihnen, ob Ihnen bekannt ist, dass das Parlament sowohl nach einer Volksinitiative als auch nach einem Volksbegehren die Möglichkeit hat, über die direktdemokratischen Vorlagen zu entscheiden.
Mit freundlichen Grüßen
Nico Nissen
Sehr geehrter Herr Nissen,
vielen Dank für Ihre Frage.
Das Hauptargument der Befürworter von mehr Plebisziten ist, dass man durch die Möglichkeit von Plebisziten auf Bundesebene der Politikverdrossenheit und dem Vertrauensverlust der Politiker entgegen wirken könnten. Ich habe hingegen noch nie verstanden, warum der Vorschlag, dem Parlament in wichtigen Fragen die gesetzgeberische Entscheidungskompetenz zu entziehen und dem Volk zu übertragen, zu einem höheren Vertrauen in die Parlamentarier führen soll. Wenn sich Parlamentarier ihrer Verantwortung entziehen und unpopuläre oder schwierige Entscheidungen dem Volk überlassen bleiben, besteht in der Tat die Gefahr einer Abwertung des Parlaments und eines weiteren Bedeutungsverlusts, der bereits durch die Normenflut der europäischen Institutionen und die unsägliche Neigung, politisch brisante Debatten mehr in Talkshows als im Parlament auszutragen, eingetreten ist.
Dies ist eines von zahlreichen Argumenten die ich angeführt habe. Ein weiters Argument ist z. B., dass das parlamentarische Verfahren insbesondere den Vorteil hat, dass es ein lernendes Verfahren - mit Lesungen im Bundestagsplenum, Diskussionen in den Ausschüssen, Berichterstattergesprächen, evtl. Sachverständigenanhörungen - ist, bei dem Kompromisse ausgehandelt werden und vor allem die Belange von Minderheiten berücksichtigt werden können.
Was nun Ihre konkrete Frage angeht, so ist festzustellen, dass auch hinter einer Volksinitiative und einem Volksbegehren eine Gesetzesvorlage und damit ein eindeutiger Wille der Antragsteller steht, eine konkrete Sachfrage in der einen oder anderen Richtung zu entscheiden. Hieraus ergibt sich meines Erachtens für das Parlament eine faktische Bindung, weil ich es nicht wie der Berliner Bürgermeister Wowereit halte, der bereits vor der Abstimmung über die Schließung des Flughafens Tempelhof erklärt hatte, dass der Berliner Senat unabhängig von der Entscheidung des Volkes über "Tempelhof" den City Airport schließen werde. Außerdem könnte sich an die Volksinitiative bzw. dem Volksbegehren, je nachdem wie das Parlament die Frage behandelt, ein Volksentscheid anschließen. Im Übrigen ist es doch so, dass es den Befürwortern von mehr direkter Demokratie darum geht, vermehrt das Volk anstelle des Parlaments entscheiden zu lassen. Es geht ihnen also im Wesentlichen um den Volksentscheid, nicht um Volksinitiative oder Volksbegehren. Insgesamt ist dies also kein Argument, das die Gefahr der Abwertung des Parlaments entkräftet.
Mit freundlichen Grüßen
Ingo Wellenreuther MdB