Frage an Ingo Schmitt von Winfried W. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Schmitt,
Immer wieder höre ich von Befürwortern der Vorratsdatenspeicherung, die Verfassungsmäßigkeit sei dadurch gewährleistet, daß die Daten nur im Einzelfall auf richterliche Anordnung abgerufen werden.
Einem Urteil des BVerfG entnehme ich jedoch, daß der Grundrechtseingriff nicht erst mit dem Abruf der Daten im konkreten Einzefall stattfindet, sondern schon allein durch das Speichern der Daten, wovon dann alle Bürger betroffen wären [1]. Denn im Bewußtsein, daß das eigene Verhalten protokolliert wird, ändert der Bürger sein Kommunikations- und Nutzungsverhalten. Vergleichbar etwa damit, daß kein Mensch mehr nackt duschen würde, hinge eine Kamera in seinem Badezimmer. Denn wenn man nicht weiß, ob und wann man beobachtet wird, verhält man sich grundsätzlich so, als würde man gerade beobachtet.
Auch wenn die Überwachung niemanden zur Verhaltensänderung zwingt, findet sie gleichwohl statt, was nach Meinung des BVerfG eine erhebliche Einschränkung der Freiheit und der Menschenwürde darstellt und davon im Falle der Vorratsdatenspeicherung nicht nur jene betroffen sein werden, deren Daten tatsächlich auch gesichtet werden, sondern alle 82 Millionen Bürger. Verhältnismäßigkeit?
Glauben Sie, daß vereinzelte Terroranschläge oder einige ungeklärte Verbrechen unsere freiheitlich- demokratische Grundordnung so massiv bedrohen, daß sie die Einschränkung der Freiheit aller Menschen in Deutschland rechtfertigt? Wie beurteilen Sie die Verfassungsmäßigkeit der Maßnahme unter den o.g. Aspekten? Und eine letzte Frage: Deutschland ist so sicher wie nie zuvor. Die Kriminalitätsrate sinkt beständig, während die Aufklärungsquote steigt. Halten Sie die Vorratsdatenspeicherung angesichts dieser Tatsachen wirklich für erforderlich oder haben Sie ihr nur zugestimmt, weil Telekommunikationsdaten für den Staat vergleichsweise einfach zu bekommen sind und Sie es gewissermaßen für eine Verschwendung halten, sie nicht zu nutzen?
[1]
Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 12.03.2003, 1 BvR 330/96, 1 BvR 348/99, abzurufen auf http://www.jurpc.de/rechtspr/20030101.htm , Abs. 47, 71, 75, 77.
Sehr geehrter Herr Wacker,
für Ihre E-Mail vom 16. November 2007, in der Sie die Umsetzung der EU-Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung in nationales Recht kritisieren, danke ich Ihnen. Ich möchte hierzu wie folgt Stellung nehmen:
Gerade die Ereignisse in London, Glasgow und in Deutschland haben uns erneut gezeigt, dass auch wir einer sehr realen terroristischen Bedrohung ausgesetzt sind. Angesichts dieser Gefahrenlage bin ich fest
davon überzeugt, dass wir es den Bürgerinnen und Bürgern schulden, alle verfassungsrechtlich vertretbaren Möglichkeiten auszuschöpfen, um verheerende Terroranschläge in unserem Land zu verhindern.
Mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen hat der Deutsche Bundestag am 09. November 2007 den Gesetzentwurf zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und zur Umsetzung der Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung angenommen. Damit hat der Bundestag ein langes und gründlich vorbereitetes Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen. Mit dem neuen Gesetz wird der gesamte Bereich der verdeckten Ermittlungsmaßnahmen in der Strafprozessordnung verfassungskonform neu geordnet. Dem in der öffentlichen Diskussion vielfältig erweckten Eindruck, aufgrund dieser Neuregelung könne nunmehr jeder voraussetzungslos von staatlichen Stellen abgehört werden, muss entschieden widersprochen werden. Grundvoraussetzung für die Anordnung von Telefonüberwachungsmaßnahmen ist nach wie vor, dass ein durch Tatsachen begründeter Verdacht für eine schwere Straftat vorliegt.
Die Rechtspolitik bewegt sich im Bereich der Telekommunikationsüberwachung in einem Spannungsfeld. Dem Grundrechtsschutz der Bürger steht die ebenfalls verfassungsrechtlich gebotene Pflicht des Staates zu einer effektiven Strafverfolgung gegenüber. Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder das öffentliche Interesse an einer möglichst vollständigen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren betont und die wirksame Aufklärung gerade schwerer Straftaten als einen wesentlichen Auftrag des staatlichen Gemeinwesens hervorgehoben (BVerfGE 107, 299, 316 m. w. N.), weil ein solches Gemeinwesen anders gar nicht funktionieren kann. Grundrechtsschutz der Bürger und Strafverfolgungsinteresse des Staates müssen deshalb in einen vernünftigen Ausgleich gebracht werden. Ich bin mir bewusst, dass im Rahmen von Vorratsdatenspeicherungen in die Grundrechte des im Einzelfall Betroffenen eingegriffen wird. Jedoch werden Grundrechte nicht uneingeschränkt gewährleistet. Der Schutzbereich, den die Grundrechte garantieren, kann dann eingeschränkt werden, wenn dies zur Verfolgung wichtiger Allgemeinwohlbelange erforderlich und angemessen, also verhältnismäßig, ist. Solche Allgemeinwohlbelange sind zum Beispiel der Schutz der Bevölkerung vor Terrorismus und damit einhergehend die Möglichkeit, effektiv bestimmte Kriminalitätsbereiche mit Strafen zu sanktionieren. Nach Artikel 13 Abs. 2 GG kann beispielsweise die Unverletzlichkeit der Wohnung grundsätzlich nur durch richterlichen Beschluss eingeschränkt werden.
Die sogenannte Vorratsdatenspeicherung ist ein Ermittlungsinstrument, das für die wirksame Aufklärung schwerer Straftaten unabdingbar ist. In der Diskussion hierüber wird vielfach übersehen, dass bereits nach der bisherigen Rechtslage Telekommunikationsunternehmen Verbindungsdaten (Verkehrsdaten) zu Abrechnungszwecken speichern dürfen. Gesprächs*inhalte* dürfen insoweit *nicht* gespeichert werden. Über diese Daten haben die Telekommunikationsunternehmen nach den Vorschriften der Strafprozessordnung den Strafverfolgungsbehörden Auskunft zu erteilen, wenn es um die Verfolgung schwerer Straftaten oder von Straftaten, die mittels Telekommunikation begangen wurden, geht (§§ 100g u. h StPO). Die Anordnung der Erteilung einer Auskunft ist an strenge rechtsstaatliche Voraussetzungen (u. a. konkreter, durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht, keine anderweitige Möglichkeit der Aufklärung, Richtervorbehalt) geknüpft. Dieses Instrument der Verbindungsdatenabfrage hat sich in der Vergangenheit als unverzichtbar bei der Bekämpfung und Aufdeckung schwerer Kriminalität erwiesen. Mit der stetigen Zunahme sogenannter „Flatratetarife“, bei denen eine Speicherung von Verbindungsdaten zu Abrechnungszwecken durch die Telekommunikationsunternehmen nicht mehr erforderlich ist, drohte es mehr und mehr seine Wirksamkeit zu verlieren. Die Möglichkeit, alleine durch Nutzung solcher Flatratetarife, Strafverfolgungsmaßnahmen zu erschweren oder zu vereiteln, dürfte insbesondere der organisierten Kriminalität nicht verborgen geblieben sein. Bereits deshalb war es erforderlich, eine entsprechende Speicherungsverpflichtung der Telekommunikationsunternehmen, unabhängig davon, ob diese Daten zu Abrechnungszwecken benötigt werden, gesetzlich festzulegen. Die bisherigen Schutzvorkehrungen sind dabei uneingeschränkt beibehalten worden.
Nicht zuletzt diese Erwägungen haben die Bundesregierung bewogen, der Richtlinie Nr. 2006/24/EG des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 15. März 2006 über die Vorratsspeicherung von Daten, die bei der Bereitstellung öffentlich zugänglicher elektronischer Kommunikationsdienste oder öffentlicher Kommunikationsnetze erzeugt oder verarbeitet werden, zuzustimmen. Die Bundesregierung hat dies mit Unterstützung des Deutschen Bundestages getan. In dem Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU/CSU und SPD vom 07. Februar 2006 (BT- Drs. 16/545), der mit der Mehrheit der Stimmen des Deutschen Bundestages angenommen wurde, wurde die Bundesregierung aufgefordert, dem Text der Richtlinie bei der abschließenden Befassung des Rates der Europäischen Union zuzustimmen (Nr. II. 1 der Beschlussempfehlung). Auch der Deutsche Bundestag hat in diesem Beschluss ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ein Zugriff auf Telekommunikationsverkehrsdaten insbesondere bei Straftaten mit komplexen Täterstrukturen, wie sie für den internationalen Terrorismus und die organisierte Kriminalität kennzeichnend sind, und bei mittels Telekommunikation begangenen Straftaten unverzichtbar ist (Nr. I. 5 und 6 der Beschlussempfehlung).
Dem Deutschen Bundestag war dabei bewusst, dass das hierfür gewählte Instrument der Richtlinie möglicherweise nicht ganz frei von kompetenzrechtlichen Risiken ist (I. 13 der Beschlussempfehlung). Er hat sich dennoch dafür ausgesprochen, weil es sich insoweit um einen Kompromiss der EU-Mitgliedstaaten gehandelt hat (das Instrument des Rahmenbeschlusses war innerhalb der EU-Mitgliedstaaten nicht mehrheitsfähig) und es jedenfalls gelungen ist, in der Richtlinie Regelungen mit Augenmaß (z. B. keine Speicherung von Gesprächsinhalten, Beschränkung der Speicherungsfrist auf 6 Monate, Datenabfrage nur bei Verdacht erheblicher oder mittels Telekommunikation begangener Straftaten) zu erreichen. Nur deshalb, weil die Bundesregierung diesen Weg der Richtlinie mitgetragen hat, hatte sie die Möglichkeit, diese Kautelen im Text der Richtlinie zu verankern.
Die Richtlinie wird mit dem Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung und anderer verdeckter Ermittlungsmaßnahmen sowie zur Umsetzung der Richtlinie Nr. 2006/24/EG (BT-Drs. 16/5846; 16/6979), das am 09. November im Deutschen Bundestag verabschiedet wurde, in nationales Recht umgesetzt.
Mit dem Gesetz werden die oben genannten Vorgaben, mit denen sowohl dem Interesse an einer effektiven Strafverfolgung als auch dem Schutz der Grundrechte in ausgewogener Weise Rechnung getragen wird, eingehalten: Von den Telekommunikationsunternehmen dürfen nur die Verkehrsdaten gespeichert werden. Die Speicherungsfrist ist auf sechs Monate begrenzt. Die Anordnung der Erteilung einer Auskunft über diese Daten ist nach wie vor an strenge rechtsstaatliche Voraussetzungen (u. a. konkreter, durch bestimmte Tatsachen begründeter Verdacht einer Straftat von erheblicher Bedeutung oder einer Straftat, die mittels Telekommunikation begangen wurde; keine anderweitige Möglichkeit der Aufklärung; Richtervorbehalt) geknüpft. Eine anderweitige Verwendung dieser Daten ist nur zu Zwecken der Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit möglich, wenn dies gesetzlich unter Beachtung der Verwendungsbeschränkungen im Telekommunikations-gesetz festgelegt ist. Eine Verwendung beispielsweise zur Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche ist nicht zulässig.
Die Telekommunikationsunternehmen haben die neu geschaffenen Speicherverpflichtungen faktisch bis spätestens zum 01. Januar 2009 zu erfüllen. Hierfür wird für die Anbieter von Telefondiensten die Bußgeldbewehrung der Speicherungsverpflichtung bis zu diesem Zeitpunkt ausgesetzt, während für die Internetzugangsdienste die Verpflichtung selbst erst zu diesem Zeitpunkt greift.
Ich hoffe, dass ich Ihrem Anliegen mit den obigen Ausführungen hinreichend gerecht werden konnte und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Ingo Schmitt