Frage an Ingo Schmitt von Markus H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Schmitt!
Ich habe, wie viele, einige Fragen zum Lissabonner Vertrag:
1. Warum wurden die Bürger über den Inhalt des Vertrages so spät informiert und Volksabstimmungen in mehreren Ländern zur EU-Verfassung umgangen, indem man die selbe Verfassung als Vertrag einführt?
2. Darf die EU wichtige Gesetzgebungskompetenzen an sich ziehen und wird die EU damit faktisch zum Bundesstaat?
3. Stimmt es, dass in Fällen eines Aufstandes in einem Mitgliedsstaat die Todesstrafe erlaubt wird? Die DDR hätte als EU-Land damit legitimerweise auf die Leipziger Demonstranten schießen dürfen...
4. Was wird damit beabsichtigt, dass die europäischen Länder nicht ab-, sondern ausdrücklich aufrüsten sollen?
5. Stimmt es, dass der EU-Ministerrat in Zukunft über das kleine Gesetzgebungsverfahren das wesentlichste EU-Recht ändern darf? Wenn dies sogar Fragen des Strafrechts, des Wirtschafts- und Sozialrechts betrifft, wie ist dies mit Ihrem Demokratieverständnis und Art. 20 Abs 1 GG vereinbar? Als Bürger bin ich absolut verärgert und gegen diesen Vertrag!
6. Ein Konzern kauft europa- und weltweit den anderen auf. Viele unserer Waren werden in China für unter 1 Euro/Tag produziert, die sich die Menschen in China nicht leisten können und hier die Arbeitsplätze wegnehmen.
Den Druck und das Lohndumping, dem Sie uns zunehmend ausliefern, bekommen immer mehr Menschen persönlich zu spüren, obwohl Sie als Politiker diese Entscheidungen für uns treffen.
Wieweit regelt der Lissabonner Vertrag, an dem Deutschland maßgeblich mitwirken konnte, die Ordnungsprinzipien einer sozialen Marktwirtschaft (z.B. strenges, effektives Kartellrecht) und wie weit haben sich unsere Volksvertreter von den Prinzipien der sozialen Marktwirtschaft hin zum Glauben an eine immer weiter liberalisierte Wirtschaft verabschiedet?
7. Warum dürfen die Staaten nicht einfach souverän bleiben und als solche zusammen arbeiten? Warum zwingt man den Menschen immer mehr Globalisierung auf?
Mit freundlichen Grüßen,
Markus Hoffmann
Sehr geehrter Herr Hoffman,
vielen Dank für Ihre Fragen, ich möchte sie gern im Folgenden beantworten:
Zu 1.: Die Europäische Union initiierte im Vorfeld der Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon mehrere Kampagnen zur Aufklärung der Bürger. Daher halte ich die Frage nach einer zu späten Informierung der Bürger für missverständlich, denn es wurden mehrere Versuche gestartet und jeder Bürger hatte und hat die Möglichkeit sich über diesen Vertrag zu informieren. Häufig wird allerdings zu Recht kritisiert, dass zu viele Bürger nicht gut informiert sind. Dieses ist tatsächlich ein Problem, welches nur durch verstärkte Öffentlichkeitsarbeit angegangen werden kann und muss.
Sollten Sie sich nach wie vor nicht gut informiert fühlen, finden Sie unter folgendem Link alle Verträge der Europäischen Union in ihrer aktuellen Fassung:
http://eur-lex.europa.eu/de/treaties/index.htm
Des Weiteren waren die Grundlage für den Vertrag von Lissabon nicht die gescheiterten Referenden bzgl. des Verfassungsvertrages, sondern die Notwendigkeit einer Reform der EU und des EU-Vertragswerkes. Denselben Ansatz verfolgte zwar der Verfassungsvertrag, er ist jedoch nicht mit dem Lissabonner Vertrag gleichzusetzen. So sind wegen der gleichen Zielsetzung große Teile in den Lissabonner Vertrag übernommen, einige Dinge inhaltlicher Natur allerdings geändert oder gestrichen worden. Hierzu zählen zum Beispiel der Verzicht auf staatstragende Symbole wie die Flagge oder die Hymne.
Richtig ist dennoch, dass die meisten EU-Staaten keine Volksabstimmungen zur Ratifikation des Vertrags von Lissabon haben durchführen lassen, ein Gegenbeispiel hierfür ist allerdings Irland. Hier ist der Vertrag mit knapper Mehrheit abgelehnt worden, ein zweites Referendum wird jedoch vorbereitet. Zur Begründung dieses Vorgehens finden Sie weiter unten bereits eine Bürgerfrage sowie eine Antwort meinerseits.
Zu 2.: Grundsätzlich können gesetzgeberische Kompetenzen auf die EU übertragen werden. Welche Gesetzgebungskompetenzen wichtig sind und welche nicht, ist objektiv schwierig unterscheidbar, einen Anhaltspunkt liefert allerdings das Grundgesetz. Insofern hat bei Unklarheiten stets das Bundesverfassungsgericht darüber zu entscheiden, ob Kompetenzen der Bundesrepublik Deutschland auf die Europäische Union übertragen werden dürfen oder dieses dem Grundgesetz widerspricht.
Am 30. Juni dieses Jahres hat das BVerfG zuletzt den Vertrag von Lissabon betreffende Verfassungsklagen in ihren zentralen Punkten abgelehnt.
Letztlich werden derartige Entscheidungen jedoch stets im Einverständnis aller Mitgliedsstaaten gefällt. Hierbei sind die Regierungen der Länder durch ihre jeweiligen Minister im Ministerrat vertreten, sodass viel weniger von einem "An-sich-ziehen" als viel mehr von einem freiwilligen Übertragen der Kompetenzen die Rede sein sollte.
Trotz aller Diskussionen entspricht die EU weder der klassischen Definition eines Staatenbundes noch der eines Bundesstaates. Auch hierzu urteilte das BVerfG in seinem o.g. Urteil, dass der supranationale Charakter der EU keine staatliche Identität habe. In seinem den Maastricht-Vertrag betreffenden Urteil von 1993 führte das Bundesverfassungsgericht den Begriff Staatenverbund ein, um dieses sprachliche Problem zu lösen.
Mit Hinsicht auf die nur global zu lösenden Probleme und die Notwendigkeit einer engen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Zusammenarbeit in Europa ist jedoch auch in Zukunft ein weiteres Zusammenwachsen Europas wünschenswert. Ob allerdings aus der EU jemals ein Bundesstaat werden wird und wann dieses möglicherweise geschieht, wird wohl eine Entscheidung der nachfolgenden Generationen sein.
Zu 3.: Spätestens mit dem Protokoll Nr. 6 zur EMRK von 1983 wurde die Todesstrafe in den Vertragsstaaten der EMRK abgeschafft. Sie blieb nach Artikel 2 Satz 1 dieses Protokolls lediglich unter gewissen Umständen zulässig, und zwar für "Taten, welche in Kriegszeiten oder bei unmittelbarer Kriegsgefahr begangen werden". Diese Formulierung hatte jedoch nie eine praktische Relevanz, sondern war ein völkerrechtlicher Vorbehalt, der einigen Staaten für den Kriegsfall eingeräumt wurde, ohne den sie nicht zugestimmt hätten. Das Protokoll Nr. 13 zur EMRK von 2002 hat diese Einschränkung nun endgültig beseitigt und die Todesstrafe vollständig abgeschafft.
Außerdem wird mit dem Vertrag von Lissabon gleichzeitig die Charta der Grundrechte der Europäischen Union rechtsverbindlich. In Art. 2 der Grundrechtecharta ist das Recht auf Leben verankert, wonach gem. Art. 2 Abs. 2 "Niemand zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden darf". Dies ist eine klare und eindeutige Aussage gegen die Todesstrafe. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben diesen Bestimmungen uneingeschränkt zugestimmt und wenden sie in der Praxis bereits heute an.
Des Weiteren ist die Abschaffung der Todesstrafe Bedingung für die Aufnahme eines Landes in die EU, sollte die Todesstrafe in dem jeweiligen Land vorher angewandt worden sein.
Daraus ergibt sich auch die Antwort auf Ihre Frage bzgl. der Leipziger Demonstranten: Unter den von Ihnen genannten Bedingungen, d.h. einer DDR als ein EU-Mitgliedsstaat, der den Vertrag von Lissabon ratifiziert hat, wären Schüsse auf die Leipziger Demonstranten selbstverständlich vollkommen rechtswidrig gewesen.
Zu 4.: Eine ausdrückliche Anweisung aufzurüsten existiert im Zusammenhang mit dem Lissabonner Vertrag nicht. Hierbei interpretieren Sie wahrscheinlich den ersten Satz des Artikels 42 (3) II falsch ("Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern.").
Auch ohne jeglichen Kontextbezug ist die Verbesserung der militärischen Fähigkeiten nicht mit einer Aufrüstung gleichzusetzen. So bedeutet Aufrüstung die Erhöhung der militärischen Kapazitäten, die Verbesserung der militärischen Kapazitäten kann hingegen ebenso die Steigerung der Effektivität und Effizienz des Militärs bezeichnen. Angesichts der technischen Entwicklung kann an letzterem also kein Anstoß gefunden werden, sofern das Militär nicht für Angriffskriege eingesetzt wird. Im Gegenteil: Um sich im Ernstfall verteidigen zu können ist ein modernes Militär von großer Bedeutung - und die eigene Verteidigung ist wohl zweifellos ein legitimes Ziel.
Zu 5.: Der Ministerrat allein besitzt keine Befugnis wesentliches EU-Recht zu ändern. Grundsätzlich liegt das Initiativrecht bei der Kommission. Das im Lissabonner Vertrag erstmals erwähnte ordentliche Gesetzgebungsverfahren ist bisher bekannt als das Mitentscheidungsverfahren, welches nun ausgeweitet wurde. Dieses bezeichnet allerdings die gleichberechtigte Aufteilung der Legislativgewalt auf das Europäische Parlament und den Rat. Im Rahmen der Lissabonner Verträge wird dieses noch ausgeweitet - eine alleinige Berechtigung, wesentliches EU-Recht durch den Ministerrat zu ändern, beinhaltet dieses nicht nur nicht, schließt es sogar ausdrücklich aus.
Zu 6.: Im Lissabonner Vertrag bekennt sich die Europäische Union erstmals zu einer sozialen Marktwirtschaft (Art. 3 Abs. 3 Vertrag über die Europäische Union), wie sie sich in der Bundesrepublik Deutschland seit ihrer Einführung durch Ludwig Erhard bewährt und soziale Sicherheit und Wohlstand in einem Ausmaß ermöglicht hat, wie sich dies die Gründerväter der Bundesrepublik kaum vorstellen konnten. Alle Statistiken belegen, dass die Mitgliedschaft in der Europäischen Union ausnahmslos, in besonderer Weise aber in den Beitrittsländern aus Mittel- und Osteuropa mit enormen Wohlstandsgewinnen verbunden ist. So ist das Pro-Kopf-Einkommen der EU-Länder im Zeitraum 1995 bis 2006 jährlich um 2 bis 5 Prozent gestiegen.
Eine Liberalisierung muss kein Widerspruch zur sozialen Marktwirtschaft sein, häufig ist sie es in der Tat nicht. Jüngste Ergebnisse zeigen uns, dass der Staat kein besserer Unternehmer ist, als es die privaten sind. Es gilt stets das Prinzip so viel Staat wie nötig, so wenig wie möglich.
Der Staat sollte als Regulativ verstanden werden, er sollte nur dann in die Wirtschaft eingreifen, wenn es wirklich notwendig ist. Dieses hat er erst kürzlich bei der Rettung sogenannter systemrelevanter Unternehmen getan. Das zeigt auch, dass die aktuelle Politik weit davon entfernt ist, sich aus ihrer sozialen Verantwortung zu stehlen und stets nach einem ausgewogenen Maß an staatlicher Kontrolle und freier Wirtschaft sucht.
Zu 7.: Die ursprüngliche Begründung für die Aufgabe der vollständigen Souveränität der Staaten Europas war der Frieden. So schaffte man mit der Montanunion eine zwingende Abhängigkeit v.a. Frankreichs und Deutschlands in kriegswichtigen industriellen Bereichen, sodass ein weiterer Krieg der traditionellen Feinde verhindert werden sollte.
Allein dieses sollten wir als Begründung akzeptieren und den Frieden nicht als Selbstverständlichkeit ansehen. Im Gegenteil: Das letzte halbe Jahrhundert Frieden in Europa kann keine Begründung sein, dass die supranationale Zusammenarbeit gelockert werden sollte, sondern der Frieden sollte für uns alle deutlich zeigen, dass eine intergouvernementale Zusammenarbeit notwendig ist und im wachsenden Umfeld globaler Probleme an Notwendigkeit nicht verliert.
Mit freundlichen Grüßen
Ingo Schmitt