Frage an Ingo Schmitt von Olaf H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Schmitt,
Sie haben am 24.04.2008 für den Vertrag von Lissabon abgestimmt.
Dieser ist trotz Ihrer Abstimmung, durch das Nein der Iren gescheitert und bis dato auch durch das Bundesverfassungsgericht nicht abschließend beurteilt worden.
Mich würde interessieren, wie Sie den wahrscheinlich noch in diesem Jahr stattfindenden zweiten Wahlgang der Iren beurteilen.
Ist es nicht eine Farce die Wähler solange abstimmen zu lassen bis das Ergebnis stimmt?
Entsteht so Politikverdrossenheit? Müsste der Vertrag von Lissabon nicht vielmehr zu den Akten gelegt werden? Es ist doch offensichtlich, dass das irische Volk den Vertrag nicht wollte! Wie ist Ihre Auffassung einer demokratischen Abstimmung?
Ist diese neue Auslegung von Demokratie oder vielmehr das Diktat von Abstimmungsergebnissen das Fundament der EU?
Wie schätzen Sie hierzu die Zitate von Jean-Claude Juncker ein?
„Die Länder, die mit Nein stimmen, müssen die Frage erneut stellen.”
(Am 26. Mai 2005, drei Tage bevor Frankreich das Referendum über die EU-Verfassung abhielt).
„Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, ob was passiert. Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter - Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.”
(Jean-Claude Juncker erklärt seinen EU-Kollegen die Demokratie - SPIEGEL 52/1999)
Haben SIE begriffen was Sie dort beschlossen haben?
Für eine Stellungnahme wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Für eine Einschätzung meines Wahlkreises, werde ich diese Fragen auch an Frau Petra Merkel (SPD) stellen.
Sehr geehrter Herr Höch,
herzlichen Dank für Ihre Fragen vom 17. Juni 2009, die ich hiermit gerne beantworte:
Richtig ist, dass am 12. Juni 2008 die irische Bevölkerung in einer Volksabstimmung den Vertrag von Lissabon mit 53,4 Prozent abgelehnt hatte. Andererseits haben aber von 27 Mitgliedstaaten der EU bereits 26 Mitgliedstaaten dem Vertrag zugestimmt, zuletzt am 6. Mai 2009 der tschechische Senat. Aus meinem demokratischen Verständnis heraus heißt das, dass es eine klare Mehrheit der 500 Millionen europäischen Bürgerinnen und Bürger gibt, die diesen Vertrag befürworten.
Ich denke, dass das Referendum in Irland von vielen Falschaussagen und Gerüchten begleitet worden ist, die letztlich zum negativen Votum geführt haben. Durch ein sechsseitiges Zusatzprotokoll zum Lissabon-Vertrag sollen nunmehr die Befürchtungen in der irischen Bevölkerung, dass der Reformvertrag Irland zu einer Legalisierung von Abtreibungen, zu Steuererhöhungen oder zur Beteiligung an EU-Militäreinsätzen zwingen würde, ausgeräumt werden. So heißt es zum Thema Abtreibung: "Nichts im EU-Vertrag von Lissabon ... beeinflusst in irgendeiner Form den Schutz für das Recht auf Leben ..., wie er in der irischen Verfassung vorgesehen ist." Zur Verteidigungspolitik: "Der Lissabon-Vertrag beeinträchtigt Irlands traditionelle Politik der militärischen Neutralität nicht." Auch biete der Vertrag keine Grundlage "für die Schaffung einer europäischen Streitmacht oder eine Wehrpflicht für irgendeine Militärformation". Die Entscheidung über die Teilnahme an EU-Operationen liege bei der irischen Regierung und beim irischen Parlament. Bei dem Zusatzprotokoll handelt es sich in erster Linie um eine Klarstellung, da der Vertrag dies tatsächlich nie vorsah. Es wird also nicht so lange abgestimmt, bis das Ergebnis stimmt. Da nunmehr die Bedenken der Iren ausgeräumt werden können, erklärte auch der irische Ministerpräsident Brian Cowen zum Abschluss des EU-Gipfels in Brüssel, am 19. Juni 2009, dass die Iren Anfang Oktober bereit für ein Referendum seien.
In Deutschland, wie in vielen anderen Ländern, haben wir eine parlamentarische Demokratie, d.h. der Bundestag ist direkt von den 80 Millionen Deutschen demokratisch legitimiert. Am 24. April 2008 hat der Deutsche Bundestag den Vertrag von Lissabon verabschiedet. Sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat haben den Vertrag mit überwältigender Mehrheit (515 Ja-Stimmen gegenüber 58 Nein-Stimmen im Bundestag. 65 Ja-Stimmen bei keiner Nein-Stimme im Bundesrat) ratifiziert, was die mehrheitliche Zustimmung der Deutschen für den Vertrag von Lissabon bedeutet.
Ich halte es für meine Pflicht, die Bürger darüber aufzuklären, dass wir den Vertrag von Lissabon brauchen, damit die Europäische Union handlungsfähiger, transparenter und demokratischer wird. Denn es gibt drei wichtige Gründe für den Vertrag: mehr Effizienz bei der Entscheidungsfindung, mehr Demokratie durch Stärkung der Rolle des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente und mehr Kohärenz nach außen. All dies wird es der EU ermöglichen, in ihrer täglichen Arbeit die Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger noch besser zu vertreten. Um aber dieses Potenzial voll ausschöpfen zu können, muss die Europäische Union modernisiert und reformiert werden. Denn sie zählt zwar 27 Mitgliedstaaten, arbeitet aber noch mit einem für 15 Mitgliedstaaten entworfenen System. Da die EU größer geworden ist und ihre Zuständigkeitsbereiche sich geändert haben, ist es sinnvoll, ihre Arbeitsmethoden zu aktualisieren. So ist z. B. für die Fortführung der EU-Erweiterung die Erneuerung der vertraglichen Grundlagen durch den Vertrag von Lissabon erforderlich. Der neue Reformvertrag wird der EU die Fähigkeit verleihen, sich den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts zu stellen.
Ich hoffe, Ihnen mit vorstehenden Erläuterungen weitergeholfen zu haben und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Ingo Schmitt, MdB