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Frage von Herbert E. •

Frage an Ingo Böttcher von Herbert E. bezüglich Soziale Sicherung

Sehr geehrter Herr Böttcher,

durch Zufall stieß ich hier eben auf ihr Profil und bin interessiert und bewundere ihren Mut zur (aussichtslosen?) Einzelkanditatur.

Wieso engagieren sie sich nicht in einer der bestehenden Parteien?

Und, wie stehen sie im einzelnen zur IBA bzw. zur IGS? Sind sie auch der Ansicht, dass das drohende Unheil ohnehin nicht mehr abzuwenden ist und man sich an den Planungen beteiligen sollte? (Wobei ich ja sowieso der Meinung bin, dass den Menschen hier die ´Beteiliging´ an dem Projekt soweiso nur suggeriert wird.)
Oder denken sie, dass IBA/IGS noch in irgendeiner Form etwas entgegengesetzt werden kann und die Aufwertung und damit verbundener Vertreibungspolitik zu verhindern/abzumildern ist?

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Sehr geehrter Herr Enziger,

da ich wieder ausgeufert bin (eine sehr persönliche und eine sehr schwierige Frage haben Sie gestellt!) gibt es hier zunächst eine Kurzfassung:

„Die Stadt“ wird IBA/IGS durchziehen, das ist nicht aufzuhalten. Die WilhelmsburgerInnen können dabei einiges „rausholen“, wenn sie ihre Unabhängigkeit bewahren, den Prozess kritisch beobachten und sich – mit Bedacht – darauf einlassen. Die institutionellen „Beteiligungsgremien“ sind dabei ein Mittel von vielen möglichen, aber mit Vorsicht zu genießen.

Die - selbstverständlich erwartbaren - negativen sozialen Aspekte des Aufwertungsprozesses, die Verdrängung derer, die ökonomisch nicht mithalten können, sind bisher aus dem IBA/IGS-Prozess ausgeblendet. Miethöhen, Nebenkosten, Wohnungsgrößen, Preise in Einzelhandel und Gastronomie und andere Sozialstrukturdaten müssen jetzt dokumentiert werden, um den Verdrängungsdruck mess- und nachweisbar zu machen. Dann könnte man gegensteuern. Wenn man (die Stadt) will.

Ohne allgemeine Parteischelte treiben zu wollen: In vielen Fällen, das ist meine Erfahrung, sind die Strukturen von Parteien für effektive politische Arbeit eher ein Hindernis denn ein Vorteil. Parteigebundene Leute geben politische Individualität zugunsten größerer kollektiver Schlagkraft auf. Dabei geht viel an Flexibilität, Spontaneität und Phantasie verloren. Das wiederum hemmt und frustriert alle, die von außerhalb auf diese Strukturen stoßen und macht Parteien zu exklusiven Politik-Clubs, die oftmals unter Realitätsverlust leiden und sehr stark auf Disziplinierung und Hierarchie ausgelegt sind. Nach meinem Verständnis und meiner Praxis von Politik ist es besonders wichtig, je nach Projekt immer wieder mit neuen Konstellationen, Interessen und Persönlichkeiten offen (zusammen) zu arbeiten. Das geht innerhalb der Parteien (bzw. Parteigliederungen), die für mich theoretisch in Frage kommen nicht. Ich behaupte (und lebe) seit nunmehr rund 25 Jahren, dass Politik eben nicht allein den Parteien überlassen werden darf, sondern die BürgerInnen einer Demokratie insgesamt die Verantwortung für das Gemeinwesen tragen. Auch dafür, schlechter (Partei)Politik wo nötig etwas entgegen zu setzen.

Gruß vom Nordufer der Norderelbe

Ingo Böttcher

Ausführlich und konkreter:

Zunächst vielleicht zwei Beobachtungen von außen (aus Rothenburgsort) zur IBA/IGS:

1.) Im vergangenen Jahr besuchte ich einige ziemlich coole IBA-(teil)finanzierte Kultur-/Kunstprojekte auf der Insel (nicht die mit der Musik resp. dem Lärm), fühlte mich aber irgendwie auf den ausdrücklich IBA-freien wohler, autonomer, wilder. Gefühle hin oder her: Prekär lebenden und sehr wohlmeinenden KünstlerInnen und Projekt-PhilosophInnen über 25 zu erzählen, sie müssten die IBA-Fleischtöpfe aus Gründen einer kontroversen und unklaren politischen Korrektheit stehen lassen, finde ich schwierig.

2.) Auf der Abschlussveranstaltung der ersten IBA-Jahres (im Hochzeitssaal Schlinckstraße Anfang Dezember 2007) musste ich mit wirklich die Augen reiben: So viel Planer- und Architekturprominenz, so viel Gefachsimpel, Planersprech, Druckwerke und Butterkuchen für umsonst wird man in Rothenburgsort und Billstedt in den nächsten 100 Jahren nicht hören bzw. sehen bzw. essen. Auf dem Podium saß mit Manuel Humburg auch ein Mitglied des Vereins Zukunft Elbinsel Wilhelmsburg. Er sagte irgendwann sinngemäß dieses: Wenn die IBA uns nicht helfen kann, die Hafenquerspange zu verhindern, dann suchen wir uns etwas anderes, das uns helfen kann. Einige Wochen später (17. Januar) stellte sich bei einer Podiumsveranstaltung zur Hafenquerspange in der Handelskammer heraus, dass die HQS nur noch in der (vermutlich zu) teuren Tunnel-Variante gedacht wird und IBA-Chef Uli Hellwig verwies recht deutlich auf den „stadtwirtschaftlichen“ Schaden dieses Straßenprojekts. Merke: „Wilhelmsburg“ ist in der Lage, der Stadt zu drohen. Mit Liebesentzug, und zwar wirksam.

Also: „Die Stadt“ wird IBA/IGS durchziehen, das ist nicht aufzuhalten. Die WilhelmsburgerInnen können dabei einiges „rausholen“ (s. o.) und vielleicht auch manch Schlimmes verhindern, wenn sie es richtig anstellen: ihre Unabhängigkeit bewahren, den Prozess kritisch beobachten und sich - mit Bedacht - darauf einlassen. Die institutionellen „Beteiligungsgremien“ sind dabei ein Mittel von vielen möglichen. Aber mit Vorsicht zu genießen: Dort besteht immer die Gefahr, rhetorisch, verwaltungstechnisch oder anderweitig trickreich über den Tisch gezogen oder instrumentalisiert zu werden. Deshalb ist es wichtig, weiterhin auf der Insel sehr unterschiedliche und gern auch widersprüchliche Positionen zum „Sprung über die Elbe“ und dessen Formaten zu bewahren (ohne sich gegenseitig zu zerfleischen), unberechenbar zu sein und sich vielleicht mal mieten, nicht aber kaufen zu lassen.

In den bunten Heften und Faltblättern der IBA lese ich sehr wenig über die - selbstverständlich erwartbaren - negativen sozialen Aspekte des Aufwertungsprozesses. Also die von Ihnen benannte Verdrängung derer, die ökonomisch nicht mithalten können oder nicht in die angepeilte Stadt-Ideologie passen. Ich halte es für wichtig und dringend angebracht, sofort den sozialen Status Quo differenziert festzustellen, also zum Beispiel Miethöhen, Nebenkosten, Wohnungsgrößen, Preise in Einzelhandel und Gastronomie oder Sozialstrukturdaten zu dokumentieren. Dann wären Aufwertungsprozesse und der Verdrängungsdruck auf wirtschaftlich schwache Gruppen und bestimmte soziokulturelle Milieus mess- und nachweisbar. Und man könnte gegensteuern. Die Frage ist nur, ob das im ökonomischen Interesse der Stadt und der Insel-Investoren wäre. Wohl eher nicht. Es wäre aber - meine ich - im Interesse all derer, die Wilhelmsburg in seinem besonderen Charakter und mit seinen besonderen Möglichkeiten erhalten wollen. Hier liegt der politische Interessenkonflikt, an dem ein Wahlkreisabgeordneter (ich zum Beispiel) auf der richtigen Seite stehen muss.

Die soziale Teilung der Stadt ist im Gange, sie ist Teil der „stadtwirtschaftlichen“ Prozesse und lange Hamburger Tradition. Man wird ihr allein in Wilhelmsburg auf Dauer nicht viel entgegen setzen können. Sondern muss für die gesamte Stadt die Frage stellen, ob wir die räumliche Trennung von „arm“ und „reich“ weiterhin wollen. Denkbare Mittel wären nur durch harte staatliche Eingriffe zu erreichen. Wie: Die besten Schulen (und LehrerInnen) für die schwächsten Stadtteile. Oder die flächendeckende Umverteilung von Sozialwohnungen. Oder das Einfrieren der Mieten in den Entwicklungsgebieten. Wie wäre das als Ziel für Wilhelmsburg: Modellstadtteil für eine Aufwertung, die keine Verdrängung bewirkt. Die Quadratur des Kreises? Wahrscheinlich. Aber: Wenn es irgendwo gelingen kann, dann zwischen den Elben.

Zu Ihrer Frage, warum ich mich nicht in einer der bestehenden Parteien engagiere möchte ich zunächst etwas klar stellen: Ich bin nicht nur in keiner Partei, ich war auch noch nie in einer, bin also nirgendwo ausgetreten oder rausgeflogen. Ich will hier nicht allgemeine Parteischelte treiben, nichts gegen Leute, die diese Form der Politik wählen oder als passive Mitglieder unterstützen. Für mich war das nie etwas. Obwohl ich durchaus auch gute Aktionen und Projekte mit Parteimitgliedern (im Zweifelsfall von der GAL oder SPD) gemacht habe und mache. Nach meiner Erfahrung und Beobachtung geben parteigebundene Leute viel von ihrer politischen Individualität zugunsten größerer kollektiver Schlagkraft auf. Sie verlieren dabei an Flexibilität, Spontaneität und Phantasie. Sie verlieren auch an Möglichkeiten, sich auf politisches Geschehen außerhalb ihrer Partei einzulassen und eigene Themen zu finden und zu verfolgen. Sie geraten in eine ausgefeilte Disziplinierungsmaschine, die feste Strukturen und Hierarchien über das Engagement und die Zweifel Einzelner legt.

Nach meinem Verständnis und meiner Praxis von Politik ist es besonders wichtig (und ich finde es effektiv), je nach Projekt immer wieder mit neuen Konstellationen, Interessen und Persönlichkeiten offen (zusammen) zu arbeiten – und eben nicht auf ein linientreues Ergebnis und eine parteikonforme Strategie festgelegt zu sein. Gerade in der konkreten Welt der lokalen Politik nützt es wenig, wenn das Ergebnis immer lauten muss: „Wir, Partei A, haben alles richtig gemacht. Partei B ist Schuld.“

Davon abgesehen: In meinem bisherigen Wirkungskreis Rothenburgsort bzw. Hamburg-Mitte (Ost) existiert die GAL nur als Vertretung in den Verwaltungsgremien, nicht als konzeptgebender Akteur vor Ort, zumal sie bislang in einer Koalition mit der SPD gefangen ist. Die örtliche SPD ist straff als Johannes Kahrs-Wahlverein organisiert und hat viele gute Leute brutal verschlissen und fallen gelassen. Ich habe den Laden noch in Zeiten der arroganten Exekution einer absoluten Mehrheit erlebt – und will damit nichts zu tun haben. (Manche der Leute dort sind wirklich sehr nett, aber die Strukturen und der Umgang miteinander sind unsäglich.) Von Die Linke habe ich hier noch nie etwas gehört. Andere Parteien kommen ohnehin nicht in Betracht. Trotzdem ein Zitat von Alexander-Martin Sardina, CDU-Horn: „Eine Partei ist, wenn es um Posten geht, gar nicht viel anders als ein Sportverein oder Kegelclub, denn nicht die Besten kommen auf die Liste, sondern die, die sich eine Mehrheit organisieren können.“ (www.abgeordnetenwatch.de, 7.1.2008) Ich finde das nicht sehr fair gegenüber Sportvereinen und Kegelclubs.

Nein, (diese) Parteien sind nichts für mich. Und sie kommen auch bei den BürgerInnen immer weniger gut an. Deshalb behaupte (und lebe) ich seit nunmehr rund 25 Jahren, dass Politik eben nicht allein den Parteien überlassen werden darf, sondern die BürgerInnen einer Demokratie insgesamt die Verantwortung für das Gemeinwesen tragen. Auch dafür, schlechter (Partei)Politik wo nötig etwas entgegen zu setzen. Den Spruch „Wenn Du etwas verändern willst, musst Du in eine Partei“, habe ich oft gehört, aber nie verstanden. Wenn ich etwas verändern will, dann brauche ich andere Menschen, die das auch wollen. Und zwar aus eigenem Antrieb – und nicht weil es im Parteiprogramm steht und die Karriere fördert.

ib