Frage an Henning Otte von Andreas S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrter Herr Otte,
wie sehen Sie das verbot der Politik, das Volk über Europa mitentscheiden zu lassen, wo doch im Grundgesetz folgendes zu lesen ist:
Dabei steht in Artikel 146 des Grundgesetzes wortwörtlich:
"Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Ergo wird es nicht möglich sein, das Grundgesetz ohne Volksabstimmung gegen eine Verfassung auszutauschen, sei sie national oder supranational. Meine grundsätzliche Frage an Sie: wie stehen Sie zum Thema EU-Vertrag und Volksabstimmung?
Viele Grüsse aus Celle
Andreas Sievers
Sehr geehrter Herr Sievers,
zunächst ist anzumerken, dass der Vertrag über eine Verfassung für Europa nicht mehr in Kraft treten wird, da er nicht in allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden wird. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben daher den Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft geschlossen. Durch das Vertragsgesetz sollen die von deutscher Seite erforderlichen Voraussetzungen für das Inkrafttreten dieses Vertrags geschaffen werden. Mit diesem Gesetz ist das vom Bundestag am 12.Mai 2005 beschlossene, aber noch nicht in Kraft getretene Gesetz zu dem Vertrag vom 29. Oktober 2004 über eine Verfassung für Europa, dem der Bundesrat am 27. Mai 2005 zugestimmt hat, überholt.
Das Vertragsgesetz bedarf nach Artikel 23 Abs. 1 Satz 3 in Verbindung mit Artikel 79 Abs. 2 des Grundgesetzes der Zustimmung von zwei Dritteln der Mitglieder des Bundestages und zwei Dritteln der Stimmen des Bundesrates, da der Vertrag von Lissabon in einzelnen Regelungen auch eine Übertragung von Hoheitsrechten vorsieht, die als verfassungsrelevante Änderung der vertraglichen Grundlagen der Europäischen Union im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist.
Auf den ersten Blick scheint die Forderung nach mehr direkter Demokratie legitim zu sein. Befürworter von Volksentscheiden sprechen gerne von der wahren Demokratie, unverfälscht von Parteiinteressen, Machterhalt und Lobbyismus. Diese Vorstellung kann jedoch einer Überprüfung anhand von Argumenten, Fakten und Erfahrungen nicht standhalten. Vielmehr erweist sie sich als eine Verklärung der Realität. Die direkte Demokratie ist nicht die bessere Demokratie. Durch Volksabstimmungen erreichte Entscheidungen setzen den Willen der Bevölkerung qualitativ nicht besser um als Entscheidungen durch das Parlament. Auch bei einem Volksentscheid wird sich das Volk nie einheitlich äußern. Auch bei einem Volksentscheid repräsentiert die Mehrheit das Ganze. Es gibt also auch bei der direkten Demokratie starke Elemente der repräsentativen Demokratie. Die Bezeichnung der direkten Demokratie als „wahre Demokratie“ ist verfehlt und entspricht damit nicht den Tatsachen. Es sprechen gute Gründ gegen die Einführung von Volksentscheiden:
Der erste Grund dagegen sind die immer komplexer werdenden Fragestellungen unserer pluralistischen Gesellschaft. Gerade der EU-Reformvertrag ist derart komplex und umfangreich, dass man wohl kaum einen Bürger finden wird, der den gesamten Vertragstext gelesen hat.
Der zweite Grund liegt darin, dass Volksabstimmungen die verfassungsrechtlich garantierte, föderale Grundstruktur unseres Staates beeinträchtigen. Unser Grundgesetz ist keine Aneinanderreihung von einzelnen Regelungen, vielmehr ist es ein äußerst ausgeklügeltes System von „checks and balances“. Durch Einführung eines Volksentscheides würden vor allem die Mitentscheidungsrechte der Länder stark eingeschränkt und unser historisch gewachsener Föderalismus beschädigt.
Drittens schlägt bei Volksabstimmungen häufig die Stunde der Populisten. Populisten, die bei normalen Wahlen keinerlei Chancen hätten, könnten sich profilieren, indem sie bestehende Ängste schüren und einfache Lösungen anbieten. Populismus, Stimmungsmache und schlagwortartige Parolen können die Entscheidung über Sachfragen zum unsachlichen Abstimmungskampf degradieren.
Nicht zuletzt besagt auch unser Grundgesetz, dass die Staatsform der Bundesrepublik Deutschland eine repräsentative Demokratie bildet. Die Bürger wählen Vertreter, die für eine begrenzte Zeit ein Mandat haben und politische Entscheidungen treffen. Grundsätzlich werden in der repräsentativen Demokratie der Bundesrepublik Gesetze nicht im Rahmen von Volksabstimmungen beschlossen. Die Erfahrungen der Weimarer Republik waren für die Verfasser des Grundgesetztes ein wichtiger Grund für die Ablehnung von Volksabstimmungen auf Bundesebene.
Das alles spricht gegen eine Ausweitung der unmittelbaren Demokratie und FÜR unser bewährtes parlamentarisch-repräsentatives System.
Mit freundlichen Grüßen
Henning Otte