Worin genau besteht der Rechenfehler bei der Novelle des Kommunalwahlgesetzes NRW zu Lasten der kleineren Parteien und Wählergruppen?
Sehr geehrter Herr Höne,
in einer aktuellen Pressemitteilung (URL: https://fdp.fraktion.nrw/kommunalwahlgesetz-mit-rechenfehlern-fdp-fordert-ruecknahme-und-warnt-vor-raubbau-der-demokratie?nl= ) fordern Sie die Regierungsmehrheit im NRW-Landtag auf, den Gesetzentwurf zur Änderung des Kommunalwahlgesetzes NRW zurückzuziehen, und führen als Argument Rechenfehler in der Gesetzesbegründung an. Aus der angegebenen Pressemitteilung wird für mich jedoch nicht ersichtlich, worin genau dieser Rechenfehler besteht und wie dieser Rechenfehler zur Verfestigung der Machtpositionen der Großparteien und zur Benachteiligung von kleineren Parteien und Wählergruppen beiträgt. Wo kann man die detaillierten Darlegungen zum Rechenfehler im Rahmen der KWahlG-Novelle nachlesen? Oder könnten Sie diese Darlegungen vielleicht auch schon in Ihre Antwort auf dieser Plattform mit aufnehmen?
Vielen Dank im Voraus und
mit freundlichen Grüßen
G. K.
Sehr geehrter Herr K.,
ich danke Ihnen für Ihre Frage. Lassen Sie mich kurz in der Darstellung ausholen. Der Idealanspruch einer Partei gibt an, wie viele Mandate sie im Rat aufgrund des Wahlergebnisses zugeteilt bekommt (mit Nachkommastellen). Er errechnet sich als „Stimmen der Partei“ dividiert durch die „Anzahl aller gültigen Stimmen“ multipliziert mit der „Ratsgröße“. Der Idealanspruch besteht aus der Ganzzahl vor dem Komma und den Nachkommastellen. Bei einem Idealanspruch von 3,75 ist 3 die Ganzzahl. Diese Ganzzahl ist jeder Partei an Mandaten sicher.
Im Folgenden schließt sich also die Rechnung an, wie die zur Ratsgröße noch fehlenden Mandate zu vergeben sind, oder anders ausgedrückt: Bei welcher Partei ist die endgültige Mandatszahl die aufgerundete Idealzahl (sie erhält einen Sitz mehr als die Ganzzahl) und bei welcher Partei ist es die abgerundete Idealzahl (also die Ganzzahl – die hinter den Nachkommastellen des Idealanspruchs stehenden Stimmen sind dann entwertet). Diese Vergabe muss dem Grundsatz der Erfolgswertgleichheit genügen. Die einzelnen Wahlstimmen müssen sich mit dem gleichen Gewicht niederschlagen können.
Der „Rechenfehler“ im Gesetz besteht nun darin, dass in ihm bei der Betrachtung der Erfolgswertgleichheit nur der Fall betrachtet wird, dass der Idealanspruch einer Partei aufgerundet wird. Eine Abrundung des Idealanspruchs, also die Entwertung von Wählerstimmen, wird nicht mit einbezogen. Das führt zu teilweise starken Verzerrungen der Erfolgswertgleichheit.
Ein Beispiel: Bei der Kommunalwahl 2020 erreichte die CDU in Düsseldorf einen Idealanspruch von 30,038 Mandaten, während die FREIEN WÄHLER auf einen Idealanspruch von 0,812 Mandaten kamen (2.212 Stimmen). Nach dem 2020 gültigen Verfahren bekam die CDU 30 Mandate und die Wählergruppe 1 Mandat, nach dem neuen Verfahren bekäme die CDU 31 Mandate und die Wählergruppe zöge nicht in den Rat ein. Mit anderen Worten: die 77 Stimmen der CDU, die hinter den Nachkommastellen 0,038 stehen, werden beim neuen Verfahren mit einem Ratsmandat belohnt, während die 2.212 Stimmen für die Wählergruppe verloren gehen.
Hinter diesen Einzelbeispielen verbirgt sich ein systematischer Fehler des neuen Verfahrens: Große Parteien werden bei der Verteilung der Mandate systematisch gegenüber mittleren bevorzugt und mittlere systematisch gegenüber kleinen. Nach dem neuen Verfahren wird aus dem Idealanspruch ein Faktor berechnet, indem der Idealanspruch dividiert wird durch „Ganzzahl plus 1“. Bei einer Partei mit Idealanspruch 3,75 ist dieser Faktor 3,75 / (3 + 1) = 15/16. Das erste zusätzliche Mandat erhält die Partei mit dem größten Faktor, das zweite zusätzliche Mandat die Partei mit dem zweithöchsten Faktor usw. bis der Rat aufgefüllt ist.
Sie sehen, dass die Partei mit Idealanspruch 3,75 keine Chance auf ein zusätzliches Mandat hat, wenn es eine andere Partei mit Ganzzahl größer/gleich 15 gibt, da deren Faktor immer größer/gleich 15/16 sein wird. Auf diese Weise benachteiligt das neue Verfahren systematisch kleine Parteien und schanzt deren zusätzliche Mandate den mittleren und größeren Parteien zu. Wäre die Kommunalwahl 2020 nach dem neuen Verfahren durchgeführt worden, so hätten die Parteien CDU, SPD und Grüne näherungsweise 319 zusätzliche kommunale Mandate (in Räten und Kreistagen) erhalten – auf Kosten aller anderen Parteien und Wählergruppen.
Bei einer kleinen Partei oder Wählergruppe entscheidet ein Mandat mehr oder häufig darüber, ob diese überhaupt im Rat vertreten ist und ob sie dort eine Fraktion oder eine Gruppe bilden kann. Deshalb sehen wir in dem neuen Verfahren nicht nur einen Angriff auf die Erfolgswertgleichheit, sondern auch einen Angriff auf die Repräsentation kommunaler Vielfalt in den Vertretungen unserer Gemeinden und Städte.
In einem Entschließungsantrag hat die FDP-Landtagsfraktion NRW die Kritik auch noch einmal zusammengefasst.
Mit freundlichen Grüßen
Henning Höne