Werden Sie die Bedürfnisse von neurodivergente Menschen anerkennen?
Sehr geehrte Frau Reichinnek,
in Artikel 3 GG wird die Dimension der Neurodiversität nicht betrachtet. Nach der klassischen Lehrmeinung gelten neurodivergente Menschen als "behindert" und müssen therapeutisch "behandelt" werden. Tatsächlich ist jedoch das Umfeld das Problem und nicht die Person selbst. Menschen mit von der Norm abweichenden neurologischen Ausprägungen, z. B. Autist*innen, Legastheniker*innen oder Synästhetiker*innen haben besondere Bedürfnisse an ihre Umwelt, z. B. reizarme Räume in allen Unternehmen und öffentlichen Gebäuden, um sich zurückziehen zu können; gut verständliche und begründete Gesetzestexte; die Möglichkeit, gegen aufgrund von autismustypischen Verhaltensweisen erteilten Kündigungen und Hausverbote vorzugehen; den Zugang zur Beamtenlaufbahn; besonders geschulte Pflichtverteidiger in Strafprozessen; Inklusion in Regelschulen statt Förderschulen; Aufklärung, Awareness, Barrierefreiheit...
Werden Sie sich für Rechte von neurodivergenten Menschen einsetzen?
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Lieber Herr S.
vielen Dank für Ihre Frage. Wir betrachten die offiziellen Kategorien "Behinderung", "Krankheit" und "Normal" als historisch gewachsene Begriffe, die die Realität nur äußerst holzschnittartig widergeben. Wir unterstützen den Inklusionsgedanken der Behindertenrechtskonvention, der keinen Unterschied zwischen Behinderung und chronischer Erkrankung macht. Das gleiche trifft auf alle Arten der Neurodiversität zu, die wie Behinderungen auch zum normalen Spektrum menschlichen Daseins gehören. Alle Menschen haben individuelle Bedürfnisse und Eigenschaften. Es ist die Aufgabe einer menschlichen Gesellschaft, alle Menschen gemäß ihren Bedarfen und Fähigkeit zu fördern und zu inkludieren. Rechtliche Stempel wie "krank" oder "behindert" werden heute verwendet, um bestimmte Hilfen wie Eingliederung oder medizinisch-psychotherapeutische Behandlung zu ermöglichen. Sie berechtigen teilweise zu besonderer Unterstützung etwa in Schulen oder in der Arbeit. Dadurch darf aber keinesfalls Diskriminierung oder Exklusion entstehen - im Gegenteil! DIE LINKE steht uneingeschränkt für eine inklusive Gesellschaft, die allen Menschen in ihren individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen Mit- und Selbstbestimmung ermöglicht. Wir wollen weder Sonderschulen, noch Sondereinrichtungen im Gesundheitswesen oder anderen Bereichen. Stattdessen sollte individuell angepasste Unterstützung bereitstehen, wenn jemand Problem mit seiner Umwelt hat. Hier darf es nicht um eine Normabweichung gehen, sondern um das Wohl der/des Einzelnen und die Rolle, die das Setting (Schule, Stadtteil, Arbeit etc.) dabei hat. Das kann Menschen betreffen, die als neurodivergent oder behindert gelten, aber genauso solche, die introvertiert sind, extrovertiert, sensibel oder unempathisch. Wir unterstützen die Einrichtung von reizarmen Räumen, die für eine ganze Reihe von Menschen mit und ohne "Diagnose" hilfreich sind. Die besonderen Bedarfe müssen insbesondere dort berücksichtigt werden, wo sie für die volle gesellschaftliche Teilhabe notwendig sind, auch in Behörden und Gerichten und in der politischen Kommunikation.
Viele Grüße