Frage an Hans-Werner Kammer von Heinz S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Kammer,
Politikverdruß und Desinteresse am öffentlichen Geschehen nimmt erschreckend zu. Die immer weiter sinkende Wahlbeteiligung ist auch eindeutiger Beleg dafür. Gründe und Ursachen sind vielschichtig und bekannt, weil gut erforscht. Meine Ideen, um Aufgeschlossenheit und Interesse am politischen Geschehen zu fördern:
- alle Wahlen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene finden an einem einzigen Tag statt
- liegt die Wahlbeteiligung unter 66 Prozent, sind die Wahlen zu wiederholen
- Bürgerentscheide sind auf allen Ebenen zuzulassen und ggf. zeitgleich mit den Wahlen herbeizuführen.
Wie ist Ihre Meinung zu meinen Ideen?
Vielen Dank und freundliche Grüsse
Heinz Schönfeld
Sehr geehrter Herr Schönfeld,
vielen Dank für Ihre Anregungen. Gerne äußere ich mich zu Ihren Ideen..
Zunächst einmal bin ich, genau wie Sie, erschrocken über die in unserem Land herrschende Politikverdrossenheit und das anscheinend zunehmende Desinteresse am politischen Leben. Umso lobenswerter ist es, dass Sie sich aktiv Gedanken machen, wie diesem Zustand begegnet werden kann.
Zu Ihren Ideen bzw. Vorschlägen im Einzelnen:
1.) Zunächst schlagen Sie vor, alle Wahlen auf Kommunal-, Landes- und Bundesebene (in Ihrem Interesse wahrscheinlich auch die Wahl zum Europäischen Parlament) an einem einzigen Tag stattfinden zu lassen.
Die Intention Ihres Vorschlags ist nachvollziehbar. Ein Wahltermin, an dem sämtliche Volksvertretungen gewählt werden, würde sicherlich eine weitaus größere Aufmerksamkeit erregen, als eine allein durchgeführte Kommunal- oder Landtagswahl.
Allerdings scheint mir dieser Vorschlag mit den föderalistischen Strukturen der Bundesrepublik nicht vereinbar. Insbesondere aufgrund der durch das Grundgesetz vorgenommenen Kompetenzverteilung zwischen den Ländern und dem Bund scheint eine auch zeitlich getrennte Wahl beider Parlamente für geboten. Würden die Wahlkämpfe für die Landtage und den Bundestag gleichzeitig stattfinden, würde die Kompetenztrennung beider Parlamente vollständig verwischt. Bundespolitische Themen würden die landespolitischen überlagern und verdrängen. Die Landtagswahlen würden wahrscheinlich zu einem durch die bundespolitische Stimmungslage beeinflussten Anhängsel der Bundestagswahl. Gleiches gilt für die Kommunalwahlen, bei denen sich die Interessen der Bürger deutlich von denen bei anderen Wahlen unterscheiden. Gleiches gilt für den Wahlkampf der unterschiedlichen Parteiverbände.
Gerade angesichts des von Ihnen beschriebenen öffentlichen Desinteresses kann es nicht wünschenswert sein, den Wähler in gewisser Weise durch die Überlagerung unabhängiger Wahlen zu überfordern und die ebenso bedeutsamen Landtags- und Kommunalwahlen in ihrer Stellung zu schwächen.
Darüber hinaus dient die Trennung der Wahlen auch dem Erhalt eines politischen Gleichgewichts. Da die Zusammensetzung des Bundesrates durch den Ausgang der Landtagswahlen bestimmt wird, ist der Wähler mittelbar in der Lage, auch Einfluss auf die Bundesgesetzgebung zu nehmen. Diese zwischenzeitliche Einflussnahme wäre nicht möglich, wenn der Wähler seine Stimme für den Bundes- und Landtag zur gleichen Zeit abgeben müsste.
Verwiesen sei zudem auf die unterschiedlichen Wahlperioden der Parlamente, nämlich den Niedersächsischen Landtag und die niedersächsischen Kommunalparlamente mit einer Legislaturperiode von fünf Jahren, den Bundestag mit vier Jahren sowie das Europäische Parlament mit wiederum fünf Jahren. Hinzu kämen die Bürgermeister- und Landratswahlen mit einer achtjährigen Amtszeit.
2.) Weiterhin schlagen Sie vor, Wahlen zu wiederholen, soweit die Wahlbeteiligung unter 66 Prozent liegt. Sicherlich ist es wünschenswert, dass die Parlamente ihre demokratische Legitimation durch eine möglichst breite Wählerschaft erhalten. Einen "Wahlzwang", welcher durch eine drohende Wiederholungswahl hervorgerufen wird, halte ich allerdings für ungeeignet. Nicht zuletzt die vergangene Wahl der belgischen Abgeordnetenkammer (in Belgien besteht ein Wahlzwang) macht deutlich, dass der Zwang zur Wahlurne zu treten, keine verlässliche und demokratisch legitimierte Regierung garantiert. Auch wenn die Stimmabgabe häufig (richtigerweise) als staatsbürgerliche Pflicht bezeichnet wird, so steht dieser dennoch die Freiheit des Individuums entgegen. Diese umfasst eben auch die Option, sich an einer Wahl nicht zu beteiligen. Mit der Wiederholung einer Wahl aufgrund mangelnder Wahlbeteiligung würden überdies vielmehr die Menschen "bestraft", die ihrer bürgerlichen Pflicht nachgekommen sind. Es wäre sicherlich nicht einfach, diese erneut zur Stimmabgabe zu bewegen.
3.) Letztlich sprechen Sie sich für Volksentscheide auf allen Ebenen aus. Volksentscheide sind in allen Bundesländern vorgesehen und werden auch, wie nicht zuletzt das aktuelle Beispiel um die Schließung des Flughafen Tempelhofs deutlich macht, genutzt. Auf der kommunalen Ebene sind Bürgerentscheide ebenfalls in allen Bundesländern möglich. Auf Bundesebene sieht das Grundgesetz eine Volksabstimmung lediglich für den Fall der Neugliederung der Bundesländer vor; eine darüber hinausgehende Beteiligung des Volkes bedürfte eine Änderung des Grundgesetztes. Ich persönlich halte eine solche Änderung nicht für notwendig. Die direkte Beteiligung der Bürger bei der Gesetzgebung hat auch deutliche Nachteile. Dem Bürger stünde im Ergebnis lediglich die Auswahl zwischen der Befürwortung und der Ablehnung eines Vorschlags zur Verfügung. Dies führt im Ergebnis zu einer Radikalisierung der Positionen, im Rahmen derer kein Platz für Kompromisse ist. Diese aber zeichnen doch gerade eine pluralistische Gesellschaft aus. Darüber hinaus stellt sich auch die Frage, inwieweit sich das Volk an solchen Abstimmungen beteiligt. Das "Musterbeispiel" der Schweiz zeigt, dass die Abstimmungsbeteiligung und Wahlbeteiligung (diese lag 2007 bei nur 50 %) häufig niedrig ist, sodass die demokratische Legitimation eines Beschlusses weit hinter der eines Parlamentsgesetzes zurückbleibt. Eine langfristige, verlässliche und kontinuierliche Politik lässt sich mit Volksentscheiden daher nur schwer realisieren.
Mit freundlichen Grüßen
Hans-Werner Kammer