Frage an Halina Wawzyniak von Malte D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Abgeordnete,
mit Sorge musste ich gestern erfahren, dass die Vorratsdatenspeicherung (VDS), die jetzt Höchstspeicherungsfrist heißt, wieder eingeführt wird. Dadurch wird durch massenhafte Speicherung von Kommunikationsdaten unschuldiger BürgerInnen möglich. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um den Rechtsstaat und meine Freiheit. Nun meine Fragen:
1. Wie stehen Sie zum Gesetzentwurf? Lehnen Sie eine VDS ab? Wenn nein, warum?
2. Es gibt technische Möglichkeiten, die VDS zu umgehen, z.B. durch im Ausland stehende Telefon- oder IP-Server. Werden Sie nach Inkrafttreten eines entsprechenden Gesetzes diese Umgehungen selber nutzen? Wenn nein, warum nicht?
3. Im Rahmen dieser Debatte fällt häufiger der Satz "Ich habe doch nichts zu verbergen". Was ist damit gemeint?
4. Wäre es nicht konsequent, wenn man alle Kommunikationsdaten speichert, auch DNS-Profile und Fingerabdrücke aller BürgerInnen zu speichern?
Ich bedenke mich schon mal im Voraus für die Beantwortung der Fragen.
Mit freundlichen Grüßen
Malte Dierwald
Sehr geehrter Herr Dierwald,
vielen Dank für Ihre Fragen. Ich erlaube mir, sie zusammenhängend zu beantworten.
Jede Speicherung und Verarbeitung von personenbezogenen und personenbeziehbaren Daten stellt einen Eingriff in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung dar. Es ist dabei unerheblich, ob die Speicherung bei staatlichen Stellen oder durch gesetzliche Verpflichtung bei privaten Stellen stattfindet. Um das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung zu schützen, wurden im Datenschutzrecht wesentliche Grundsätze am Maßstab der Verhältnismäßigkeit entwickelt: der Erlaubnisvorbehalt für die Erhebung, Speicherung und Verarbeitung von Daten; Datensparsamkeit und Datenvermeidbarkeit, Zweckbindung erhobener Daten; Erforderlichkeit für den zu erreichenden Zweck; Transparenz darüber, wo welche Daten gespeichert sind. Durch eine Vorratsdatenspeicherung werden diese Grundsätze und damit das Recht auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. Daten werden ohne jeden konkreten Anlass und in großen Massen gespeichert. Doch nur ein geringer Bruchteil der gespeicherten Daten wird für den Zweck der angestrebten Aufklärung schwerer und schwerster Straftaten abgerufen.
Immer noch hat niemand die Notwendigkeit, geschweige denn die Nützlichkeit der Vorratsdatenspeicherung bewiesen. Kürzlich stellte ich eine Anfrage an die Bundesregierung, in der ich konkret wissen wollte, welche Fälle nicht aufgeklärt werden konnten, weil keine Vorratsdatenspeicherung existiert. Solche Fälle konnte mir die Bundesregierung allerdings nicht nennen, obwohl sie selbst immer noch steif und fest behauptet, dass es solche Fälle gebe. Kein Wunder, es gibt schlicht und ergreifend solche Fälle nicht. Das belegt u.a. eine Studie des Max-Planck-Institutes für ausländisches und internationales Strafrecht aus dem Jahr 2011 mit der aufgeworfenen Frage zu Schutzlücken durch den Wegfall der Vorratsdatenspeicherung. Und was besagt diese Studie?
*Deutschland hat eine höhere Aufklärungsrate von Straftaten als die Schweiz, obwohl diese eine Vorratsdatenspeicherung hat.
*Die deliktsspezifische Aufklärungsquote für den Zeitraum 1987 bis 2010 zeigt, dass sich der Wegfall der Vorratsdatenspeicherung nicht als Ursache für Bewegungen in der Aufklärungsquote abbilden lässt.
*Bei einer Betrachtung der vom Institut untersuchten Delikte des Jahres 2008, in dem Vorratsdaten grundsätzlich zur Verfügung standen, kann für keinen der untersuchten Deliktsbereiche eine mit der Abfrage zusammenhängende Veränderung der Aufklärungsquote im Hinblick auf das Vorjahr oder den Folgejahren 2009/2010 beobachtet werden.
*Im Hinblick auf den immer wieder gern genannten "Enkeltrickbetrug" ist deutlich geworden, dass der strafrechtliche Schutz (und Schutzlücken) nicht allein durch den Rückgriff auf Vorratsdaten bedingt sein kann.
*Für Kapitaldelikte sind Veränderungen in den Aufklärungsraten wegen fehlender Vorratsdaten nicht sichtbar geworden. Die gesonderte Überprüfung der in der BKA-Fallsammlung enthaltenen Tötungsdelikte ergibt keinen Hinweis darauf, dass bei schwerster Kriminalität durch die Entscheidung des BVerfG die Aufklärung überhaupt behindert worden wäre.
Doch die Vorratsdatenspeicherung kann nicht allein aus der Perspektive des Bedarfs der Sicherheitsbehörden an Daten zur Verbrechensaufklärung oder der Gefahrenabwehr betrachtet werden. Der Gesetzgeber steht auch in der Pflicht, die grundrechtlichen und gesellschaftspolitischen Folgen einer solchen Speicherpflicht in den Blick zu nehmen. Verspüren die Bürgerinnen und Bürger angesichts immer neuer Speicherpflichten, erweiterter Zugriffsmöglichkeiten von Behörden auf vorhandene Daten, das massenhafte Ausspähen von Daten durch eigene und fremde Nachrichtendienste, Daten- und Identitätsdiebstahl im Internet eine zunehmende Verunsicherung, so liegt darin auch eine Gefahr für die Demokratie. Der Spruch "Ich habe doch nichts zu verbergen." zieht schon lange nicht mehr, denn niemand hat ein Interesse daran, dass persönliche Daten in fremde Hände gelangen.
Alle Datenschutzexperten und Juristen sind sich darüber einig, dass der Gesetzentwurf zur Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung eklatante Mängel hat. DIE LINKE wird dem Gesetzentwurf daher geschlossen ablehnen.
Mit freundlichen Grüßen
Halina Wawzyniak