Wird ein Abrüsten langfristig vor Aggressoren wie Putin schützen?
Sehr geehrter Herr Gysi,
Ich habe jahrelang die Linke gewählt und fühle mich auch im Herzen links. Ich verabscheue den Kapitalismus und setze mich für volle soziale Gerechtigkeit ein. Ich war auch immer für Abrüstung, da es ohne Waffen keine/weniger Kriege gibt. Nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine macht mir der Gedanke nach Abrüstung aber zunehmend Angst. Nach allen Taten und Lügen Putins scheint es mir so als schrecke er nur vor Waffen zurück. Ich habe die Sorge, dass eine Abrüstung nur Putin etwas bringt, oder etwaigen Aggressoren in Zukunft.
Ich würde sehr gerne die Linke wählen, da wir eine starke linke Stimme in Europa brauchen, aber dieser Punkt macht es für mich sehr schwer. Ich hoffe Sie können mir Ihre Ansicht zu der Thematik schildern und etwas die Angst nehmen.
Vielen Dank für Ihre Zeit und freundliche Grüße.
Sehr geehrter Herr S.,
Ihre Nachricht vom 03. Mai hat mich erreicht.
Ihre Sorgen kann ich sehr gut nachvollziehen. Aber die Tatsache ist folgende, dass die NATO schon immer das 20-fache für Rüstung im Vergleich zu Russland ausgegeben hat. Dies hat den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nicht verhindert. Der Streit ist ein anderer. Putin denkt insofern imperialistisch, als er meint, für ehemalige Sowjetrepubliken (mit Ausnahme von Estland, Lettland und Litauen) mehr zuständig zu sein als andere Staaten. Er erkennt die Souveränität dieser ehemaligen Sowjetrepubliken nicht an und will, dass die USA und die NATO dies akzeptieren. Dazu sind die NATO und die USA aus nachvollziehbaren Gründen nicht bereit. Andererseits entwickeln sie aber auch kein Interesse daran, jetzt einen Waffenstillstand zu erreichen, um das Territorium der Ukraine in Friedensverhandlungen zu sichern. Wir geben jetzt schon weit über 50 Milliarden Euro für die Bundeswehr und die Rüstung aus. Das Ganze soll auf mehr als 75 Milliarden Euro erhöht werden. Verteidigungsminister Pistorius spricht davon, dass die Bundeswehr kriegstüchtig werden müsse. Ich bin dafür, dass sie verteidigungstüchtig wird. Ich denke, dass generell an Deeskalation gearbeitet werden muss. Eine Friedensordnung in Europa ist ohne Russland nicht möglich. Die westlichen Demokratien dachten, dass sie nach dem Sieg über den Staatssozialismus einen Weltherrschaftsanspruch besäßen. Nun entwickelt sich über das Bündnis BRICS (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) eine neue Blockbildung. 40 Staaten haben plötzlich den Antrag auf Aufnahme gestellt. Wir brauchen also wieder mehr Interessenausgleich, deutlich mehr Diplomatie, eine strikte Wahrung des Völkerrechts, das zuerst beim Krieg gegen Serbien, bei der Abtrennung des Kosovo und beim Krieg der USA gegen den Irak vom Westen verletzt wurde, durch alle Seiten. Ich glaube nicht, dass eine zunehmende Aufrüstung die Probleme löst. Natürlich muss die Bundeswehr verteidigungstüchtig sein, aber das ist sie auch.
Außerdem wurden Finnland und Schweden Mitglieder der NATO, weil sie dadurch nicht angreifbar sind von Russland. Griffe Russland sie an, wäre das ein Bündnisfall und es entstünde der 3. Weltkrieg, den auch Putin fürchten muss. Die Bundesregierung unterstützte die Argumentation der finnischen und der schwedischen Regierung. Sie will aber nicht zur Kenntnis nehmen, dass Deutschland schon Mitglied der NATO ist, so dass die gleiche Argumentation zählt. Sollte es übrigens wirklich zum 3. Weltkrieg kommen und sollte dieser auch atomar geführt werden, bleibt von uns ohnehin nichts übrig. Ich bin aber ein Zweckoptimist und glaube, dass es gelingen wird, ein solches Szenarium zu verhindern.
Mit freundlichen Grüßen,
Dr. Gregor Gysi