Frage an Gregor Gysi von Rita H. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Dr. Gysi,
welche Bedeutung hat die päpstliche Bulle vom 11.07.2013, aus der ein neues Rechtsverhältnis hervorgeht, denn es betrifft die Immunität der Richter, der Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Regierungsbeamten?
Leider erhält man keinerlei Erklärungen von den Medien.Das ist nicht nur bedauerlich, sondern auch unverständlich.
Ich warte mit Spannung auf Ihre Antwort.
Liebe Grüße,
Rita Heinke
Sehr geehrte Frau Heinke,
vielen Dank für Ihre Nachricht vom 5. September.
Ich habe unsere Juristin gebeten, Ihnen eine Antwort zukommen zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Gysi
Sehr geehrte Frau Heinke,
ich gehe davon aus, dass Sie mit der päpstlichen Bulle vom 11.07.2013 das "Apostolische[] Schreiben in Form eines «Motu Proprio» Seiner Heiligkeit Papst Franziskus über die Gerichtsbarkeit der Rechtsorgane des Staates der Vatikanstadt im Bereich des Strafrechts" meinen. Dabei handelt es sich um eine schriftliche Verlautbarung des Papstes, mit der Folgendes angeordnet wurde:
"1. Die zuständigen Rechtsorgane des Staates der Vatikanstadt üben die Strafgerichtsbarkeit auch aus in Bezug auf:
a) Straftaten, die gegen die Sicherheit, die grundlegenden Interessen oder die Güter des Heiligen Stuhls gerichtet sind;
b) die Straftaten, die erwähnt werden im:
- Gesetz des Staates der Vatikanstadt Nr. VIII vom 11. Juli 2013, das »Ergänzende Normen im Bereich des Strafrechts« enthält;
- Gesetz des Staates der Vatikanstadt Nr. IX vom 11. Juli 2013, das »Änderungen im Strafgesetzbuch und in der Strafprozessordnung« enthält; die von den unter dem folgenden Punkt 3 aufgeführten Personen im Rahmen ihrer Amtsausübung begangen wurden;
c) jede andere Straftat, deren Bekämpfung von einem internationalen Abkommen verlangt wird, das vom Heiligen Stuhl unterzeichnet wurde, wenn der Täter sich im Staat der Vatikanstadt befindet und nicht ins Ausland ausgeliefert wurde.
2. Die unter Punkt 1 erwähnten Straftaten werden nach der Gesetzgebung abgeurteilt, die zu der Zeit, in der sie verübt wurden, im Staat der Vatikanstadt gültig war, vorbehaltlich der allgemeinen Prinzipien der Rechtsordnung in Bezug auf die zeitliche Anwendung der Strafgesetze.
3. Im Rahmen des Vatikanischen Strafgesetzes werden den »öffentlichen Amtsträgern« gleichgestellt:
a) die Mitglieder, Beamten und Mitarbeiter der verschiedenen Einrichtungen der Römischen Kurie sowie der mit ihr verbundenen Institutionen;
b) die Päpstlichen Gesandten und die diplomatischen Mitarbeiter des Heiligen Stuhls;
c) Personen, die vertretende, verwaltende oder leitende Funktionen bekleiden, sowie jene, die - auch »de facto« - unmittelbar vom Heiligen Stuhl abhängige Körperschaften verwalten und kontrollieren und die im Verzeichnis der kirchlichen Rechtspersonen eingetragen sind, das im Governatorat des Staates der Vatikanstadt geführt wird;
d) jede weitere Person, die einen administrativen oder juristischen Auftrag am Heiligen Stuhl besitzt, sei es ständig oder vorübergehend, entlohnt oder unentgeltlich, auf jedweder Ebene der Hierarchie.
4. Die unter Punkt 1 erwähnte Gerichtsbarkeit schließt auch die administrative Verantwortung der Rechtspersonen ein, die sich aus einer Straftat herleitet, wie es von den Gesetzen des Staates der Vatikanstadt geregelt wird.
5. Falls in anderen Staaten in derselben Sache vorgegangen wird, kommen die im Staat der Vatikanstadt gültigen Normen über die konkurrierende Gerichtsbarkeit zur Anwendung.
6. Art. 23 des Gesetzes Nr. CXIX vom 21. November 1987, durch das die Gerichtsordnung des Staates der Vatikanstadt verabschiedet wurde, bleibt weiterhin gültig."
Damit wird das Strafrecht reformiert. Im Vatikanstaat gelten seit 1929 das italienische Strafgesetzbuch von 1889 und die italienische Strafprozessordnung von 1913 in der Fassung, die sie durch wenige vatikanische Anpassungen erhalten haben. Durch die Strafrechtsreform wird das Strafrecht zwar nicht von Grund auf reformiert, es wurden aber neue Straftatbestände - wie rassistische Diskriminierung, Straftaten gegen Minderjährige, Völkerrechtsverbrechen und Terrorismus - eingeführt und existierende Strafvorschriften geändert, beispielsweise zum Geltungsbereich des vatikanischen Strafrechts, zur Höchststrafe, zum Geheimnisverrat und zur Korruption. Eine weitere wesentliche Neuerung ist, dass künftig auch Mitarbeiter der Römischen Kurie, des Heiligen Stuhls etc. die Straftaten im Amt begehen, verfolgt werden können. Früher konnten wegen solcher Delikte nur Amtsträger des Vatikanstaats bestraft werden.
Eine "Immunität der Richter, der Rechtsanwälte, Staatsanwälte und Regierungsbeamten" wurde durch das apostolische Schreiben nicht aufgehoben. Diese Berufsgruppen genießen im Vatikanstaat keine Immunität. Soweit Sie mit "Immunität" die Unabhängigkeit der Justiz meinten, so müssen Sie wissen, dass es sich beim Vatikanstaat um eine absolute Wahlmonarchie handelt und der Papst die Fülle der gesetzgebenden, ausführenden und richterlichen Gewalt besitzt (Art. 1 der Verfassung des Vatikanstaats). Die richterliche Gewalt wird nach Art. 15 der Verfassung im Namen des Papstes ausgeübt und nach Art. 16 kann der Papst in jeder Zivil- oder Strafsache und in jedem Stadium des Verfahrens die Untersuchung und die Entscheidung einer speziellen Instanz übertragen, auch mit der Berechtigung, die Entscheidung nach Billigkeit und unter Ausschluss jedweden weiteren Rechtsmittels zu fällen. Um die Unabhängigkeit der Justiz ist es also - zumindest von Verfassungswegen, die Praxis mag besser aussehen - seit jeher nicht besonders gut gestellt.
Es trifft auch nicht zu, dass die Medien nicht über die vatikanische Strafrechtsreform berichtet haben. Sie können sich davon selbst überzeugen, indem Sie bei google die Suchbegriffe "Vatikan" und "Strafrecht" eingeben.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Gysi