Frage an Gregor Gysi von Jörg D. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Gysi,
in den vergangenen Wochen habe ich mich mit Georg Jellinek beschäftigt, der Ihnen als Rechtsanwalt bestimmt ein Begriff sein dürfte. Dieser meinte vor über 100 Jahren, dass Sozialleistungen (z.B. Sozialhilfe, Grundsicherung, Grundeinkommen...) zur staatlichen Pflichterfüllung zählen, weshalb ein Einzelner keinen direkten Anspruch darauf habe. Vielmehr sei eine Gewährung solcher Leistungen ein Reflex auf die staatliche Fürsorgepflicht, die sich wiederum am Allgemeinwohl im Gemeininteresse orientieren soll. (Quelle: „System der subjektiven öffentlichen Rechte“ von Georg Jellinek aus dem Jahr 1892, Seite 69ff. und vor allem 118; oder folgende Artikel bei Wikipedia, die ich selbst auf Basis dieses Buchs geschrieben habe: http://de.wikipedia.org/wiki/Reflexrecht und http://de.wikipedia.org/wiki/Statuslehre_(Recht)#Status_positivus )
Heißt das, dass das Volk prinzipiell von der Jovialität (dem Wohlwollen) des Staates (in einer Demokratie: seiner gewählten Vertreter) abhängt?
Dass sich die Bundesdeutsche Regierung dem Allgemeinwohl verpflichtet hat, geht aus den von Kanzlerin und Ministern geleisteten Amtseiden hervor (Art. 64(2) und 56 GG). Darin werden sozusagen die Rahmenbedingungen für den Vertragsgegenstand zwischen Regierung und Volk beschrieben.
Mich würde weiter interessieren, wie Sie selbst den Inhalt des Eides verstehen (zum Beispiel für den Fall, dass Sie Regierungsverantwortung übernehmen). und wie die jetzige Regierung den Inhalt aus Ihrer Sicht interpretiert. Welche Differenzen bestehen zwischen Ihrem Verständnis des Allgemeinwohls im Gemeininteresse und dem der heutigen Regierung? In wie weit wird aus Ihrer Sicht das erfüllt, was in dem Eid versprochen wurde?
Im Voraus herzlichen Dank für Ihre Antwort,
mit freundlichen Grüßen aus Kiew,
Jörg Drescher
Sehr geehrter Herr Drescher,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 29. Januar.
Sie stellen eine Vielzahl von Fragen, und ich finde beim besten Willen nicht die Zeit, sie ausführlich zu beantworten.
Selbstverständlich kenne ich Georg Jellinek, der in verschiedenen Arbeiten von mir als Student und später eine Rolle spielte. Inzwischen ist aber Zeit vergangen und wir haben ein Grundgesetz, das meines Erachtens einen individuellen Rechtsanspruch auf Sozialleistungen in bestimmten Fällen begründet. Allgemeinwohl bedeutet, dass der Einsatz des Eigentums, dass Regierungsmaßnahmen und andere Handlungen nicht darauf gerichtet sein dürfen, den Schwachen in der Gesellschaft zu schaden. Die Reichen und Starken brauchen kein Gesetz zu ihrem Schutz, die Schwachen benötigen es.
Meines Erachtens verletzt die Regierung ihren Amtseid, weil sie so gut wie keine Maßnahme im Interesse des Allgemeinwohls beschließt. Aber es ist gut, dass es eine Opposition wie uns gibt, die immer wieder diesbezüglich deutliche Kritik übt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Gysi