Frage an Gregor Gysi von Hendrik J. bezüglich Innere Sicherheit
Sehr geehrter Herr Dr. Gysi,
im § 166 StgB wird die Beschimpfung und Beleidigung anderer Bekenntnisse unter Strafe gestellt, wenn diese geeignet ist, die öffentliche Ordnung zu stören.
Dieser Paragraph stellt einen Gesinnungsparagraphen dar, der die freie Meinungsäußerung einschränkt und einen einzelnen gegebenenfalls für die Intoleranz einer verbohrten Religionsgemeinschaft verantwortlich macht.
Wie steht die Linke zu diesme Paragraphen? Wird sie sich für die Abschaffung dieses Paragraphen einsetzen? Und wie steht die Linke zur Kirchensteuer? Wird sich die Linke für die Abschaffung der Kirchensteuer einsetzen?
Für Ihre Antwort bedanke ich mich im Vorraus.
Mit freundlichem Gruß
Hendrik Justi
Sehr geehrter Herr Justi,
vielen Dank für Ihre Nachricht vom 28. August, die ich an den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Neskovic mit der Bitte weitergeleitet habe, Ihnen eine Antwort zukommen zu lassen.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Gysi
Sehr geehrter Herr Justi,
vielen Dank für Ihre Anfrage, die ich wie folgt beantworte:
Das friedliche Zusammenleben in einer freiheitlich-pluralistischen Gesellschaft erfordert Toleranz und Rücksichtnahme. Auch bei der Ausübung der Gewissens- und Religionsfreiheit soll niemand befürchten müssen, wegen seiner Weltanschauung oder Religion öffentlich diffamiert zu werden. Dieser Gedanke liegt dem Schutzzweck von § 166 StGB zugrunde. Der Zweck ist allein die Wahrung des öffentlichen Friedens. Davon abzugrenzen und nicht erfasst sind der Schutz der Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften an sich, des religiöse Empfindens der Anhänger und des sachlichen Inhalts religiöser oder weltanschaulicher Bekenntnisse. Daher fordert § 166 StGB als Handlung ein Beschimpfen, das geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören. Aufgrund der herausragenden Bedeutung der Meinungsäußerungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft ist ein Beschimpfen nur unter sehr engen Voraussetzungen anzunehmen. Selbst ironische oder geschmacklose Kritik ist erlaubt. Die Grenze wird überschritten, wenn die Äußerungen sich auf die Kundgabe besonders verletzender Missachtung beschränken oder grob verleumderisch sind. Beurteilt wird dies aus Sicht eines neutralen Beobachters.
Trotz ihres eingeschränkten Anwendungsbereiches ist die Norm rechts- und kriminalpolitisch umstritten. Eine Rechtfertigung für eine besondere Behandlung des Bekenntnisses und der weltanschaulichen sowie religiösen Gemeinschaften ist schwer zu erkennen. Warum Intoleranz in diesen Angelegenheiten ein höheres Gefährdungspotential aufweist oder strafwürdiger ist, als z.B. Intoleranz gegenüber politischen Auffassungen, erschließt sich nicht ohne weiteres. Die Gefährdung des sozialen und öffentlichen Friedens findet bereits über § 130 StGB Schutz, die Achtung der Persönlichkeit über die §§ 185 StGB. Toleranz lässt sich durch Strafvorschriften schwerlich erzwingen. Die Norm des § 166 StGB, die ihre Ursprünge in der Strafbarkeit der Gotteslästerung hat, ist in einem weltanschaulich neutralen Rechtsstaat als überholt anzusehen.
Die weltanschauliche Neutralität des Staates gebietet es auch, dass alle Religionsgemeinschaften ihre Finanzierung durch ein eigenes Beitragssystem sicherstellen.
Mit freundlichen Grüßen
Wolfgang Neskovic