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Frage von Yannick M. •

Frage an Gregor Gysi von Yannick M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Aber findest du diese Aussage von Modrow nicht erschreckend? Nur weil es eben in der DDR kein Gesetz dazu gab, was diese Mauertoten verbietete, hält er die Prozesse gegen sie für völkerrechtswidrig? Das heißt im Prinzip kann ein Land machen was es will und die Leute, die Straftaten begehen bzw. Mord sollen später nicht mal angeklagt werden?

Außerdem hier, BGHSt 41, 101 - Mauerschützen III steht:

„Ein Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die DDR zu verlassen, Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gab, indem er die vorsätzliche Tötung unbewaffneter Flüchtlinge gestattete, ist wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam."

„Soweit Gesetze oder Staatspraxis offensichtlich und in unerträglicher Weise gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte verstießen, können die dafür verantwortlichen Machthaber und diejenigen, die auf deren Anordnung handelten, nicht dem Strafanspruch, den die Strafrechtspflege als Reaktion auf das verübte Unrecht mit rechtsstaatlichen Mitteln durchsetzt, unter Berufung auf das Rückwirkungsverbot entgegenhalten, sie hätten sich an bestehende Normen gehalten. Sie konnten nicht darauf vertrauen, daß eine künftige rechtsstaatliche Ordnung die menschenrechtswidrige Praxis auch in Zukunft hinnehmen und nicht sanktionieren werde. Ein solches Vertrauen kann nicht als schutzwürdig im Sinne des Art. 103 Abs. 2 GG gelten. In einem derartigen Fall dürfen sie sich nicht auf den Satz berufen, daß heute nicht Unrecht sein kann, was früher „Recht“ war."

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Antwort von
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Lieber Yannick Mildner,

Deine weitere Anfrage vom 27. April hat mich erreicht. Die Toten an der Mauer können und müssen ausschließlich verurteilt werden. Kein Staat dürfte das Recht haben, Bürgerinnen und Bürgern eine Ausreise zu verbieten. Eine Gesellschaft, die sich sozialistisch nennt, müsste darauf bestehen, anziehend zu sein und nicht die Leute mit Zwang zu halten. Obwohl dies alles zwischen uns unstrittig ist, fand ich die entsprechenden Prozesse dennoch falsch. Die Soldaten an der Grenze waren natürlich davon überzeugt, rechtmäßig zu handeln. Entscheidend ist für mich aber eine andere Überlegung. Alle wussten und haben es früher eingestanden, dass eine Öffnung der Mauer und damit eine Verhinderung von Verletzten und Toten nur mit Genehmigung der sowjetischen Führung denkbar unmöglich war. Die Genehmigung wurde erst Ende 1989 erteilt. Das bedeutet aber, dass auch Michail Gorbatschow von 1984 bis 1989 niemals darauf drang, die Mauer zu öffnen. Im Gegenteil, er schrieb noch in ein Grenzbuch der DDR, wie wichtig der "Schutz dieser Grenze" sei. Und so bleibt es schwierig, den einen zu erklären, dass sie verfolgt und verurteilt werden, Michail Gorbatschow aber zum Ehrenbürger Berlins zu erklären. Das schreibe ich, ohne die großen Verdienste von Michail Gorbatschow leugnen zu wollen. Ich kenne ihn und ich schätze ihn auch.

Es gibt noch ein weiteres Problem. Massenmorde schlimmsten Umfangs vor 1945 wurden von der Justiz der Bundesrepublik Deutschland so gut wie gar nicht verfolgt. Immer wieder gab es auch seitens der Staatsanwaltschaft Einstellungsverfügungen. Es wurde mit extrem unterschiedlichem Maß gemessen. Zweifellos muss man sich sehr kritisch mit der DDR auseinandersetzen, aber sie war und ist zu keinem Zeitpunkt auch nur irgendwie mit dem Naziregime vergleichbar gewesen.

Es ist immer schwer, wenn man in einem Satz solche Gedanken zusammenfassen will. Ich habe auch einmal einen längeren Aufsatz dazu in der Frankfurter Rundschau geschrieben. Das liegt Jahre zurück. Vielleicht gibt es mal eine Gelegenheit, ausführlicher darüber zu diskutieren.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Gysi

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