Frage an Gina Bechtold von Andreas S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Bechtold,
warum treten bei dieser Wahl vier Tierschutzparteien an? Dadurch verringern sich doch Ihre Chancen gewählt zu werden. Was unterscheidet Ihre Partei konkret von der Partei Mensch Umwelt Tierschutz (Tierschutzpartei), die ja bereits länger existiert? Warum soll ich gerade Sie wählen?
Mit freundlichen Grüßen,
A. S.
Sehr geehrter Herr Schönberger,
vielen Dank für Ihre Anfrage. Die meisten von uns waren früher mal in der Tierschutzpartei („TSP“). Inhaltlich haben wir im Umfeld der Tierrechte mit den ehemaligen Parteifreunden auch kaum Differenzen – in deren Grundsatzprogramm steht einiges Gutes drin. Die TSP ist weltweit die erste Partei, die sich dem Tier als Schwerpunkt annahm – gegründet am 13. Februar 1993. Sie ist somit weltweit „die Mutter aller Tierschutz- und Tierrechtsparteien“. Das verdient Anerkennung! Ohne Grund waren die meisten unserer Aktiven nicht jahrelang dort dabei und haben sich mit Herzblut eingebracht. Vor diesem Hintergrund ist es ein Hohn, dass eine „neue Tierschutzpartei“ sich Aktion Partei für Tierschutz – DAS ORIGINAL - Tierschutz hier! nennt. Wenn sich einer „das Original“ nennen kann, dann die TSP.
Das Problem mit der TSP: Es gibt keinen klaren Trend nach oben – zwar wellenförmig mal auf, mal ab – aber seit einem viertel Jahrhundert kein wirklicher Durchbruch. Das Einzige, was die TSP zuverlässig produziert, sind Ableger – beispielsweise uns oder auch die Tierschutzallianz! Und dass, obwohl sich im letzten viertel Jahrhundert viel getan hat! Inzwischen kennt man in der Gastronomie nahezu durchgängig das Wort „vegan“, jeder Supermarkt und sogar jeder Discounter hat zumindest einige Produkte verfügbar. In den Medien laufen regelmäßig Berichte über die unhaltbaren Zustände in der Massentierhaltung, über deren Auswirkungen auf die Ökologie, die weniger entwickelten Länder und den Hunger dort, und auf die Volksgesundheit nebst den dadurch verursachten Kosten. Aber die TSP schaffte es nicht, sich als politischer Arm der Tierrechtsszene zu etablieren und mit der gesellschaftlichen Entwicklung Schritt zu halten – sie konnte nicht mal davon profitieren im Windschatten dieser Entwicklung. Geschweige denn, als „Eisbrecher“ der Bewegung das Fahrwasser für die unpolitischen Organisationen und Firmen zu bahnen.
Dies mag auch daran liegen, dass die TSP ein Vollprogramm hat im Gegensatz zu uns. Wir positionieren uns ganz klar als „Ein-Themen-Partei“ damit wir uns auf unser Kernthema konzentrieren können. Wir sind die einzige Tierschutzpartei die sich explizit für Tierrechte einsetzt! Ziehen wir den Vergleich zu den Niederlanden: Dort wurde gegen Ende 2002, also knapp 10 Jahre nach der TSP, die Partij voor de Dieren gegründet (PvdD). Sie ist in beiden Kammern des niederländischen Parlaments, in regionalen Volksvertretungen sowie im EU-Parlament vertreten und hat derzeit ca. 16.000 Mitglieder. Rechnet man das um auf die fast fünffache deutsche Bevölkerung, so müsste ein deutsches Äquivalent – oder alle deutschen Splitterparteien mit Schwerpunkt Tierwohl zusammen – fast 80.000 Mitglieder haben. Summiert man alle diese Parteien einschließlich uns selbst auf, wird diese Marke um ca. Faktor 20 verfehlt! Die TSP allein verfehlt die Vorgabe der Niederländer um Faktor 50! Und dass, obwohl sie fast ein Jahrzehnt länger existiert als die PvdD in NL.
Eine Partei, die dauerhaft erfolglos bleibt, erreicht jedoch eher das Gegenteil von dem, wofür sie steht: Sie ist der lebende – oder besser: der dahinvegetierende – Beweis für die etablierte Politik, dass dieses Thema an der Wahlurne offensichtlich keine Rolle spielt! Würde es bei uns noch Sklaverei geben, akzeptiert von der etablierten Politik, und als Gegenbewegung hätte sich eine „Anti-Sklaverei-Partei“ gegründet, die bei Wahlen meist deutlich unter 1% bleibt – was wäre dann die Erkenntnis bei den Politstrategen der Etablierten? Dass man was tun muss gegen Sklaverei und für allgemeine Menschenrechte? Wohl kaum! Es fehlt jeder Druck, etwas zu ändern. Würde die Anti-Sklaverei-Partei beispielsweise bei Bundestagswahlen wenigstens 4,9% erzielen, wäre sie zwar immer noch nicht im Deutschen Bundestag – aber die dem Thema näherstehenden etablierten Kräfte würden zumindest überlegen, wie sie dieses Wählerpotential wieder zu sich herüberziehen könnten. Und würden damit wenigstens zum Schein und in einigen kleineren Ansätzen umschwenken in Richtung allgemeiner und unveräußerlicher Menschenrechte. Da anscheinend nichts wird aus der TSP – ja sogar befürchtet werden muss, dass die erfolglose TSP ihrem höchst ehrenhaften Ziel schadet – finden wir es gut, dass andere Wege ausgelotet werden, politisch erfolgreich zu sein pro Tierwohl.
Ob einer dieser neuen Ansätze, beispielsweise der unsrige, sich dann als besser = erfolgreicher = wirksamer herausstellt zur Etablierung unveräußerlicher Grundrechte für Tiere muss sich zeigen. Denkbar ist natürlich auch, dass es nie etwas wird bei uns im Gegensatz zu NL, weil die Deutschen sich als weniger mitfühlend herausstellen für das Leid der Tiere. Oder dass wir uns alle, auch alle Neuen, nicht nur die alte TSP, kollektiv zu blöd anstellen – obwohl das Potential vielleicht doch da wäre. Denn die Niederländer sind ja nicht von einem anderen Stern. Es fällt schwer zu glauben, dass bei uns unmöglich sein soll, was dort geht. Demnach ist es sinnvoll, alternative Ansätze zur TSP auszutesten.
Aber warum ausgerechnet als Ein-Themen-Partei? Wer wählt denn so etwas? Wo bleiben die menschlichen Interessen? Wir sind nicht gegen Menschen! Wir sehen den Menschen grundsätzlich auch als Tierart an, mit den anderen Tieren eng verwandt. Wir Menschen sind die Tiergattung, die bezüglich des abstrakten Denkvermögens am höchsten entwickelt ist. Für die Rechte von Tieren einzutreten bedeutet mitnichten, gegen Rechte und Interessen der Tierart Mensch zu sein! Uns ist schon bewusst, dass es viel leichter wäre ins EU-Parlament zu kommen, wenn man menschlichen Zielgruppen möglichst viele und möglichst tolle Versprechungen macht. Sollte der Einzug ins EU-Parlament tatsächlich gelingen und man würde eingeladen werden zu Koalitionsverhandlungen, muss man sich jedoch erinnern an all die vielen Versprechen. Nur durch Teilhabe an einer Regierungskoalition kann man etwas erreichen – „Opposition ist Mist“ sagte schon Franz Müntefering. Da aber bei diesen Koalitionsverhandlungen für eine Vielzahl von Zielen wenigstens überall ein klein wenig heraus gehandelt werden müsste, bliebe am Ende für die Tiere wieder fast nichts oder gar nichts übrig. Um aber nichts oder fast nichts zu erreichen für die Tiere mit einem Öko-Sozial-Mischprogramm – dafür braucht es keine weiteren Tierschutzparteien mit Vollprogramm – das beherrschen die alten schon perfekt! Wenn wir unsere Energie und Lebenszeit in ein politisches Projekt investieren soll etwas herauskommen für die leidensfähigen Mitgeschöpfe, die bisher nahezu schutzlos der menschlichen Willkür und Brutalität ausgeliefert sind. Wir setzen alles auf eine Karte – alles auf ein Thema – alles auf unser Thema. Den Versuch ist es wert. Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Mit freundlichen Grüßen
Gina Bechtold