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Gerold Otten
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Frage von Ulrich M. •

Halten Sie einen russischen Angriff auf Litauen oder andere NATO-Staaten für militärisch realistisch?

Sehr geehrter Herr Otten,

in der Presse werden Ängste vor einem russischen Angriff auf die NATO formuliert, der im Jahr 2030 mit dann wieder "aufgefüllten" Streitkräften erfolgen könnte. Angesichts der Materialschlacht in der Ukraine mit mittlerweile überwiegend Uralt-Material und Zwangssoldaten erschien mir das bisher komplett illusorisch. Ich war bisher der Meinung, dass Russland sich mit diesem Krieg - auch bei einem etwaigen Erfolg - auf lange Zeit selber militärisch schwächt. Daher haben mich diese Pressemeldungen überrascht. Wie bewerten Sie dieses Szenario? Wird Russland in 2030 auf einmal hunderte von Kilometern Land im Handstreich erobern können, wo sie doch jetzt nur wenige Meter gutmachen?

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AfD

Sehr geehrter Herr M.,

die von Ihnen aufgeworfene Frage an mich beschäftig sehr viele Menschen, denn sie berührt ein Szenario, das wir uns kaum vorstellen können (und wollen), von dem aber hohe Politiker, Wissenschaftler und Militärs seit geraumer Zeit sprechen. So haben beispielsweise der Generalinspekteur der Bundeswehr sowie der medial omnipräsente Carlo Masala vor kurzer Zeit vor einer realen Bedrohung gewarnt, die von Russland ausgehe, und das vor einem Millionenpublikum an Zuschauern (https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/russland-bedrohung-nato-100.html). Alle Akteure beziehen sich dabei auf Auswertungen von Geheimdiensten, die davon ausgehen, dass sich die russischen Streitkräfte nach einer Phase der Erholung, Reorganisation und Taktikanpassung einen großen konventionellen Krieg vorbereiten. Ebenso ist die Rede von begrenzten Verletzungen der Souveränität und Integrität der ostmitteleuropäischen NATO-Partner. Das dürfte, grob umrissen, die augenblickliche Gefahrenanalyse darstellen, die für unsere politische Führungsebene handlungsleitend ist.

Darauf aufbauend bitten Sie mich, eine eigene politische & militärische Bewertung vorzunehmen. Ich darf wohl im Namen meiner Fraktion sprechen, wenn wir grundsätzlich die Lösung politischer Konflikte zwischen Staaten durch Krieg ablehnen. In diesem Sinne haben wir auch immer wieder betont, dass wir den Angriff Russlands auf die Ukraine verurteilen. 

Was wir an der Politik der letzten Jahre an erster Stelle kritisieren, ist die grundsätzlich einseitige Umdeutung der Vorgeschichte dieses 2014 ausgebrochenen Konflikts in ein Schwarz-Weiß-Schema. Politische Entscheidungen von Staaten geschehen nicht im luftleeren Raum, sondern tangieren die Sicherheitsinteressen der Nachbarstaaten, und in diesem Sinne hat Russland seit 2004 immer wieder betont, dass man die Ausweitung der NATO an die Grenzen Russlands als eine Bedrohung nationaler Sicherheitsinteressen betrachtet. Ich gehe deswegen darauf ein, weil es das, was wir alle wollen, nämlich einen Interessenausgleich auf Basis einer friedlichen Lösung von Konflikten, eben nur dann geben kann, wenn er den Ursachen für den bestehenden Konflikt Rechnung trägt. Nur so kann ein tragfähiger Frieden verhandelt werden, der nicht schon von Beginn an den Nukleus für neue Auseinandersetzungen in sich birgt. Das wird aber nicht möglich sein, wenn moralische Erwägungen statt realpolitischen Erwägungen stets der Vorrang eingeräumt wird.

Aus diesem Grund ist die Frage, wie ich die reale Gefahr eines russischen Angriffes auf die europäischen NATO-Staaten einschätze, zunächst einmal damit verbunden, ob und wie der Ukrainekrieg beigelegt werden kann. Dass es in diesem Zusammenhang auf beiden Seiten, in Russland und in der NATO (hier vornehmlich in den europäischen Staaten der NATO) zu einer wachsenden konventionellen Aufrüstung kommen wird, egal welchen Ausgang der Krieg nimmt, ist leider wohl anzunehmen. Und hier setzt unser zweiter Kritikpunkt an (neben der einseitigen Ursachenanalyse), nämlich dass es derzeit keinen Gleichklang von Abschreckung und Diplomatie gibt, wie es noch im Kalten Krieg der Fall gewesen ist. Wenn beide Akteure einseitig nur auf Aufrüstung setzen, ist ein Krieg durchaus möglich, sogar wahrscheinlich. Mein dritter Kritikpunkt ist, dass die Staatslenker der meisten europäischen NATO-Staaten sichtbar und beinahe obsessiv auf Distanz zu Trump gehen, anstatt mit ihm über außen- und sicherheitspolitische Interessen zu sprechen. Das schadet dem Bündnis und der Verteidigung der europäischen NATO-Staaten gewaltig. Denn da wir keine Atommacht werden können (und wohl auch nicht wollen), brauchen wir den US-amerikanischen Schutzschirm und gute Beziehungen zu den USA wie die Luft zum Atmen.

Wenn Sie mich also fragen, ob ich die Gefahr eines russischen Angriffes auf ein NATO-Mitglied für realistisch halte, muss ich die Antwort zunächst von den Entwicklungen der nächsten Monate abhängig machen. Putin ist ein Machtpolitiker, der Interessen hat und diese notfalls auch mit Mitteln durchzusetzen sucht, die der sog. regelbasierte Ordnung (die es nie gegeben hat) zuwiderlaufen. Wenn es die westlichen Staaten nicht hinbekommen, einen Modus vivendi mit den Sicherheitsinteressen Russlands zu finden, glaube ich, dass die russische Führung durchaus bereit sein wird, ihre Interessen auch mit kriegerischen Mittel durchzusetzen, zumindest aber, dass sie das NATO-Bündnis testet, ohne den USA zu sehr auf die Füße zu treten. Daher sage ich: Das NATO-Bündnis zusammenzuhalten und zu stärken, ist nach meiner Ansicht die beste Option, durch Abschreckung und Diplomatie zu einem Ausgleich über die Sicherheitsinteressen zu gelangen. Diesen Kurs kann ich aber derzeit bei den europäischen Staatenlenkern nicht erkennen.

Das aggressive Vorgehen Russlands seit 2014 sowie die Bemühungen des Präsidenten Trump, einen Frieden zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln, haben bei einem Großteil der EU sowie den alten transatlantischen Eliten nervösen Aktionismus hervorgerufen. Für die Aufrüstung der Bundeswehr hat die Merz-Klingbeil-Regierung mit dem bereits aufgelösten (!) 20. Bundestag einen unbegrenzten Kreditrahmen für ihre Legislatur geschaffen und auf EU-Ebene sollen 800 Mrd. EUR für Rüstungsausgaben der EU-Staaten bereitgestellt werden. Was man aber konkret will, ist nicht klar. Es fehlt die Koordination (https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/aktuelles/europa-muesste-300000-soldaten-mobilisieren-um-sich-ohne-die-usa-gegen-russland-zu-verteidigen/). Für EU-Anhänger in den Parlamenten soll nun die EU alles richten. Das halte ich für fatal. Nicht nur, dass die EU dadurch defacto Doppelstrukturen zur NATO aufbaut, es wäre der Abgesang auf die NATO und ein politischer Stinkefinger in Richtung USA. Meine Vorstellungen sind andere:

Als Verteidigungspolitiker der AfD im Deutschen Bundestag ist es mein Ziel seit 2017 gewesen, die Bundeswehr zu reorganisieren (Füllung hohler Strukturen), sie auf die Landesverteidigung und auf die Bündnisverteidigung zu fokussieren (Fähigkeiten/ Train as you fight) und den Verteidigungswillen Deutschlands zu beleben (https://ruediger-lucassen.de/wp-content/uploads/2019/06/Endfassung-SK-Bundeswehr-26.06.pdf). Die Bundeswehr ist gegenwärtig nicht in der Lage, Deutschland in einem konventionellen Angriff erfolgreich zu verteidigen.

Was die NATO betrifft, war es bisher so, dass der NATO Defence Planning Process das Fähigkeitsprofil für das NATO-Bündnis sowie für jeden einzelnen NATO-Mitgliedsstaat formulierte und darauf aufbauend entsprechende Forderungen stellte (https://www.nato.int/cps/ua/natohq/topics_49202.htm), die die Mitgliedstaaten mit entsprechenden Fähigkeiten unterlegen müssen. Dazu brauchte es Geld, welches vom Gesetzgeber bewilligt werden musste. Was am 18. März geschehen ist, hat das System von Planung und Umsetzung auf den Kopf gestellt. 

Trump hat vor seiner Wahl klargestellt, dass sich die europäischen NATO-Staaten konventionell selbst verteidigen müssen, damit die USA den nuklearen Schirm weiterhin über Europa spannt. Jetzt wäre es meiner Ansicht möglich, etwas zu schaffen, was in den vergangenen Dekaden, als die USA uneingeschränkte Vormacht im NATO-Bündnis forderte, nicht umsetzbar war: Neben der Formulierung eines Fähigkeitsprofil des NATO-Bündnisse sowie jedes einzeln Staates könnten jetzt die europäischen NATO-Staaten ebenfalls ein eigenes Fähigkeitsprofil formulieren, das das politische Ziel verfolgt, das Territorium der europäischen NATO-Staaten vor konventionellen Angriffen eigenständig zu verteidigen. Auf diese Weise wäre es möglich, einen stabilen europäischen Pfeiler der NATO zu schaffen, mit eigenem Generalstab und Verteidigungsplanungen, ohne die USA als Bündnispartner zu verlieren. Das würde z. B. für Deutschland konkrete Fähigkeitsforderungen bedeuten sowie für die europäischen NATO-Staaten eine verbesserte Kohäsion der Verteidigungsbemühungen. Weiß man nämlich, wohin man will, ist es auch möglich, die finanziellen Bürden zu benennen. Doch dergleichen geschieht nicht. Geld soll wieder einmal Probleme lösen, die eine (nach meiner bescheidenen Meinung) unfähige politische Klasse geschaffen hat. Schulden, so scheint es mir, ist wohl noch das einzig verbliebene Konzept, auf das sich die bisherigen führenden politischen Akteure einigen können.

Auf militärischem Gebiet befinden sich die Streitkräfte derzeit in einem gewaltigen Umbruch. Was den symmetrischen Krieg zwischen zwei gleichstarken Gegnern betrifft, so hat die beginnende Digitalisierung des Schlachtfeldes dazu geführt, dass großflächige Operationen wie im Ersten Weltkrieg kaum noch möglich sind, da sie a) bereits beim Aufmarsch, b) bei der Heranführung oder c) bei ihrer Ausführung entdeckt bzw. wirksam bekämpft werden können. Erst wenn es einer Seite gelingt (durch technologische Überlegenheit) dem Gegner den Zugang zum Gefechtsfeld sowie zum Hinterland zu versperren, seinerseits aber die entsprechenden Aufklärungs- und Wirkmittel zum Einsatz zu bringen, werden schnelle konventionelle Operationen wieder möglich. Solange sich die Fähigkeiten beider Seiten allerdings aufwiegen, muss dagegen mit einem Abnutzungskrieg gerechnet werden. Operationen mit kurzfristigen gewaltigen Geländegewinnen, die ggf. strategische Bedeutung haben, werden bis dahin wohl nicht zu erwarten sein.

Mit diesem kurzen Exkurs zu den neuesten Entwicklungen, die auch Ihre Frage berühren, bedanke ich mich für Ihr Interesse an meiner Einschätzung.

Mit freundlichem Gruß

Gerold Otten

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