Frage an Gabriele Zimmer von Christine K. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Zimmer,
seit 2014 wird über eine europäische Arbeitslosenversicherung diskutiert.
Ist diese Diskussion noch aktuell? Falls ja, können Sie mir aus Ihrer Sicht die Auswirkungen einer solchen europäischen Arbeitslosenversicherung schildern? Was wären aus Ihrer Sicht die Vorteile, was die Nachteile für die deutschen Arbeitslosen?
Herzlichen Dank im Voraus.
Mit freundlichem Gruß
C. K.
Sehr geehrte Frau K.,
herzlichen Dank für Ihre Fragen bezüglich der Diskussion zu einer möglichen Europäischen Arbeitslosenversicherung (EALV) für die Eurozone.
Zunächst zum Stand der Diskussion:
Vorschläge, die in Richtung einer EALV für die Eurozone gehen, fanden sich schon im sogenannten Bericht der vier Präsidenten (der EU-Kommission, der EZB, des Europäischen Rates und der Eurogruppe) vom Dezember 2012 (Siehe Seite 11): http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/134206.pdf).
In der Tat nahm diese Diskussion im Jahr 2014 an Fahrt auf. Der ehemalige EU-Kommissar für Beschäftigung und Soziales, László Andor, hatte eine EALV offensiv gefordert.
Im November 2014 ließ der Beschäftigungsausschuss des EU-Parlaments ein Hearing dazu durchführen und eine Studie anfertigen: (http://www.europarl.europa.eu/RegData/etudes/STUD/2014/510984/EPRS_STU%282014%29510984_REV1_EN.pdf - nur auf Englisch verfügbar).
Ende Januar 2016 kam der italienische Minister für Wirtschaft und Finanzen, Pier Carlo Padoan, in den Beschäftigungsausschuss des EU-Parlaments und warb erneut dafür, über die Einführung einer EALV nachzudenken.
Bereits im sogenannten Bericht der Fünf Präsidenten (die vier oben genannten plus der Präsident des EU-Parlaments) zur "Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion" vom Juni 2015 wurde die Idee für eine EALV jedoch nicht mehr aufgegriffen (http://ec.europa.eu/priorities/sites/beta-political/files/5-presidents-report_de_0.pdf). Zu groß sind die Widerstände von konservativer und rechter Seite gegen mehr Solidarität zwischen den Menschen in der EU.
Für mich als Abgeordnete der LINKEN hängt es von vielen Faktoren ab, ob ich einer EALV für die Eurozone zustimmen würde oder nicht. Zunächst muss man wissen, dass es in der Diskussion nicht um eine rein sozialpolitische Maßnahme geht, sondern darum, einzelne EU-Staaten in vorrübergehenden Krisen zu unterstützen. Es geht also nicht darum, durch dauerhafte Umverteilung zwischen EU-Staaten Lebensverhältnisse anzugleichen, sondern Konjunkturschwankungen auszugleichen - im Unterschied etwa zum Länderfinanzausgleich in Deutschland.
In groben Zügen geht die Argumentation so: Bevor der Euro eingeführt wurde, werteten Mitgliedsstaaten in einer Krise ihre Währung ab, um Exporte zu verbilligen und die Konjunktur zu beleben. Mit dem Euro und dem einheitlichen Zinssatz der Europäischen Zentralbank ist dies in der Eurozone nicht mehr möglich. In einer Krise kommt es kurzfristig zu einem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit. Das bedeutet: Weniger Einzahlungen für die Sozialkassen, während gleichzeitig die Ausgaben steigen. Da auch die Währung nicht abgewertet werden kann, bleiben dem betroffenen Land kaum Möglichkeiten, auf die Krise zu reagieren.
Die Idee, die am häufigsten diskutiert wird und oft "Basismodell" der EALV genannt wird, ist, dass über eine EALV die krisenbedingte Kurzzeitarbeitslosigkeit - beispielsweise in den ersten zwölf Monaten - abgefedert wird. In dieser Zeit würde über die EALV das Arbeitslosengeld ausbezahlt und die krisengeschüttelte nationale Arbeitslosenversicherung entlastet. Das betroffene Land hätte dann mehr Geld, um durch Investitionen aus der Krise zu kommen. Ab dem 13. Monat Arbeitslosigkeit würde die nationale Arbeitslosenversicherung übernehmen. Es würde also kein dauerhafter Umverteilungsmechanismus etabliert, wie von Konservativen oft behauptet wird. Zumindest gilt dies für den hier dargestellten Ansatz, der am häufigsten diskutiert und von Sozialwissenschaftlern erforscht wird.
Von einer solchen EALV würden natürlich auch Arbeitslose in Deutschland profitieren, wenn die Bundesrepublik von einer Krise getroffen wird. Zum Beispiel könnte - zumindest theoretisch - die nationale Arbeitslosenversicherung großzügiger gestaltet werden oder die Leistungen aus der EALV zusätzlich ergänzen. Dies würde Betroffene sozial schützen und gleichzeitig die lokale Wirtschaft durch den Erhalt der Kaufkraft stärken.
Sollte es einmal so weit kommen, dass eine EALV eingeführt wird, sind jedoch viele Faktoren zu bedenken.
Wie würde die EALV finanziert werden - durch individuelle Beiträge der europäischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in einen gemeinsamen Topf, als Beiträge aus den nationalen Haushalten wie beim EU-Haushalt, oder als Anteil aus dem Topf der jeweiligen nationalen Arbeitslosenversicherung?
Wer hat Zugang zur EALV und nach welchen Kriterien (z.B. vorherige Beschäftigungsdauer, Höhe der einbezahlten Beiträge, usw.)?
Wie hoch wären die Leistungen der EALV (z.B. 50, 60, 70 % des vorherigen Lohns und wie lange würden sie ausbezahlt (z.B. 6, 12 oder 18 Monate)?
Ein weiterer wichtiger Punkt, der in der breiten Diskussion aufgekommen ist und etwa von der EU-Kommission unterstützt wird, ist die sogenannte Konditionalität:
Das bedeutet, die Kurzzeitarbeitslosen in einem Mitgliedsstaat würden nur dann Zugang zur EALV bekommen, wenn das betroffene Land Strukturreformen umsetzt. Nach der derzeitigen Politik der Großen Koalition auf EU-Ebene könnte dies heißen, dass Mindestlöhne gesenkt, öffentliches Eigentum privatisiert und der Kündigungsschutz abgeschafft werden müssten.
Unter solchen Umständen wäre eine EALV kein Gewinn für die Solidarität in der EU, sondern nur ein weiterer Hebel für die Konservativen und Liberalen, um soziale Standards abzusenken.
Sie sehen, Ihre Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten.
Persönlich wäre ich grundsätzlich für eine EALV, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer individuell einbezahlen und die Auszahlung der Leistungen nicht an Strukturreformen geknüpft würden, durch die sich die soziale Situation der Menschen wiederum verschlechterte. Zudem muss eine EALV eingebettet sein in weitere Maßnahmen, um aus der EU eine Sozialunion zu machen - etwa Abschaffung des Steuerdumpings und Mindeststeuersätze für Konzerne, gemeinsame EU-Standards für jeweils nationale Mindestlöhne, armutsfeste Mindesteinkommen und -renten, um nur einige zu nennen.
Bezüglich der oben geschilderter Detailfragen warte ich auch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungsarbeit dazu ab, bevor ich eine endgültige Position einnehme.
Grundsätzlich bin ich der Ansicht: Würde über die EALV eine direkte europäische Solidargemeinschaft der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zumindest für die Eurozone entstehen, könnte dies ein sozialer Gewinn auch für Beschäftigte in der Bundesrepublik sein.
Ich hoffe, ich konnte Ihre Frage zufriedenstellend beantworten.
Mit freundlichen Grüßen,
Gabi Zimmer