Frage an Fritz Felgentreu von Leo B. bezüglich Wissenschaft, Forschung und Technologie
Sehr geehrter Herr Felgentreu,
als angehender Wissenschaftler interessiert es mich besonders, was ihre Partei zu tun gedenkt, um die enorm wachsende Prekarisierung in diesem Sektor einzudämmen und abzuschaffen. Gerade auch bezüglich der zahlreichen befristeten Arbeitsstellen und Teilzeitjobs.
Ähnlich gelagert ist meine zweite Frage: Was möchten Sie tun, um generell das grassierende Praktikumsunwesen - schlechte oder gar keine Bezahlung, Verpflichtung zu Praktika vor einem "richtigen" Arbeitsvertrag beim gleichen Arbeitgeber, keine Sicherheit bezüglich späterer Übernahme usw. - zu bekämpfen?
Und schließlich drittens aus lokalem Interesse: Wie stellen Sie sich die zukünftige Nutzung des Tempelhofer Feldes vor?
Beste Grüße,
Leo Bronstein
Sehr geehrter Herr Bronstein,
darf ich zunächst die Gegenfrage an Sie richten, warum Sie sich so ungern zu Ihrem richtigen Namen bekennen mögen, dass Sie ihn hinter diesem -- leicht deprimierenden -- Pseudonym verbergen? Ich persönlich ziehe einen -- gerne auch kontroversen --- Austausch mit Transparenz vor.
Zu Ihren Fragen, mit denen Sie auf Themen von großer gesellschaftlicher
Bedeutung eingehen:
Die prekären Verhältnisse im Wissenschaftsbetrieb sind mir als Privatdozent der Freien Universität auch aus eigener Erfahrung schmerzlich bewusst. Es erstaunt, dass ausgerechnet die USA, die sonst nicht als Vorbild für soziale Sicherheit gelten, mit der Institution des tenure track verlässlichere Rahmenbedingungen für Forschung und Lehre geschaffen haben als unser Land. Für die SPD ist klar: Das Prinzip der "Guten Arbeit" muss auch in Wissenschaft und Forschung gelten. Wir wollen für Tätigkeiten in Wissenschaft und Forschung mehr unbefristete Beschäftigungschancen und verlässliche Berufsperspektiven schaffen, auch und gerade jenseits der Professur auf Lebenszeit, um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu verbessern. Dennoch sind Befristungen und Zeitverträge bei Qualifizierungsstellen nicht zu vermeiden. Dafür will die SPD im Wissenschaftszeitvertragsgesetz Mindeststandards für Befristungen schaffen und für mehr Gestaltungsspielräume der Tarifparteien sorgen. Um den zahlreichen Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftlern, die insbesondere im Rahmen der Exzellenzinitiative in das deutsche Wissenschaftssystem gekommen sind, verlässliche Karriereperspektiven zu bieten, müssen zusätzliche Stellen in allen Personalkategorien geschaffen werden: Professuren, Juniorprofessuren und akademischer Mittelbau. Frauen sind in Wissenschaft und Forschung nach wie vor deutlich unterrepräsentiert. Die SPD will den Frauenanteil im Wissenschaftssystem durch am Kaskadenmodell orientierte Zielquoten nachhaltig erhöhen. In wissenschaftlichen Führungsgremien wollen wir einen Anteil von mindestens 40 Prozent erreichen.
Praktika waren -- und sind vom Grundgedanken her immer noch -- etwas Gutes:
eine Möglichkeit zu lernen und zugleich auszuprobieren, ob eine Tätigkeit
überhaupt den eigenen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Durch die
grassierende Ausbeutung von Praktikantinnen und Praktikanten ist das
Praktikum an sich bei vielen in Verruf geraten. Diese Entwicklung muss
beendet werden. Die SPD will den Missbrauch von Praktika wirkungsvoll
bekämpfen, indem wir Mindeststandards einführen. Praktika und Arbeitsproben
sind Lern- und Ausbildungsverhältnisse. Wo reguläre Arbeit geleistet wird,
muss diese auch regulär bezahlt werden. Zu den Mindeststandards bei
Praktika gehören ein Vertrag, eine Mindestvergütung, ein qualifiziertes
Zeugnis, sowie bei Praktika, die nicht Teil der Berufsausbildung sind, die
Befristung auf maximal drei Monate.
Nach konservativer Schätzung erwarten wir in Berlin bis 2020 ein Bevölkerungswachstum durch Zuzug von ca. 250.000 Menschen -- das wäre die Einwohnerschaft eines kleineren Bezirkes. Wenn wir verhindern wollen, dass dieser Zuzug nach den einfachen Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage zu einer Mietenexplosion führt, ist Wohnungsbau in erheblichen Größenordnungen notwendig. Die Berliner SPD stellt sich diesem Problem. Wir streben im genannten Zeitraum an, zusätzlichen Wohnraum im Umfang von 70.000 Wohnungen zu schaffen. Dabei liegt der Schwerpunkt auf bezahlbarem Wohnen und auf Neubau durch die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften und durch Genossenschaften. Dieses ehrgeizige, aber sozialpolitisch zwingende Ziel ist mit einer NIMBY-Politik ("Not In My Back Yard" -- "nicht vor meiner Haustür") nicht zu erreichen. Wenn wir 70.000 neue Wohnungen in Berlin haben wollen, müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, die es in der Stadt dafür gibt.
Der größte Interessenkonflikt ergibt sich bei der geplanten Randbebauung des Tempelhofer Feldes. Denn natürlich will auch die Berliner SPD die Freiräume dieses einzigartigen Geländes weiterhin für Naherholung, Naturschutz und Sport bewahren. Der vorgesehene Bau von 4.500 Wohnungen an den Ost-, Süd- und Westrändern des Feldes ist damit gut vereinbar. Die Park- und Freifläche wird dauerhaft größer bleiben als der Tiergarten und den Berlinerinnen und Berlinern reiche Entfaltungsmöglichkeiten bieten. Als einem Sozialdemokraten ist mir besonders wichtig, dass der neue Wohnraum, der dort entsteht, für jedes Einkommen ausreichend Angebote bereithält. Deshalb freut es mich, dass auf der Neuköllner Seite die öffentlichen Gesellschaften Stadt und Land und DeGeWo und die Baugenossenschaft Ideal als Bauträger im Gespräch sind. Sie bieten eine Garantie, dass hier wirklich bezahlbarer Wohnraum für alle entsteht, damit Menschen ganz unterschiedlichen Einkommens und damit auch unterschiedlicher Lebensweisen einen lebendigen Kiez wachsen lassen, wo alle im Zusammenleben von den anderen lernen können.
Mit freundlichem Gruß
Fritz Felgentreu