Frage an Friedrich Ostendorff von Beate B. bezüglich Politisches Leben, Parteien
Sehr geehrter Herr Ostendorff,
nachdem ich viele Jahre die Grünen gewählt habe, weil ich derem Grundsatzprogramm zustimme, vernehme ich mit Erstaunen, dass der Bundesvorstand der GRÜNEN die Einführung der direkten Demokratie auf Bundesebene nach mehr als 40 Jahren aus dem Grundsatzprogramm streichen will.
Volksabstimmungen sind ein wichtiges Mittel, um uns Bürger:innen echte Mitbestimmung auch zwischen den Wahlen zu ermöglichen.
Wie stehen Sie dazu, dass die Volksabstimmung aus dem Grundsatzprogramm der Partei gestrichen werden soll?
Werden Sie sich, auf dem Parteitag dafür einsetzten, dass die Volksabstimmung nicht aus dem Grundsatzprogramm der Partei gestrichen wird?
Mit freundlichen Grüßen B.Böcker
Sehr geehrte Frau Beate Böcker,
Bitte haben Sie Verständnis, dass wir hier in erster Linie individuelle Fragen zur parlamentarischen Arbeit von Herrn Ostendorff in der Bundestagsfraktion beantworten.
Zu Ihrem Sachverhalt stelle ich Ihnen daher eine Antwort der Partei zur Verfügung, da für den Grundsatzprogrammprozess der Partei der Bundesvorstand verantwortlich ist. Wir können zum Prozess nur bedingt antworten.
Mit freundlichen Grüßen Büro Friedrich Ostendorff
Wir GRÜNE fordern seit vielen Jahren Instrumente der direkteren Beteiligung und Mitbestimmung der Bürger*innen. Denn die Essenz unserer Demokratie ist, dass Perspektiven aktiv eingebracht werden können. Eine vielfältige Demokratie braucht Einmischung, Repräsentanz, Lust zur Auseinandersetzung und Kompromissfähigkeit. Wir wollen, dass unsere Bevölkerung die Möglichkeit bekommt, die politische Agenda stärker selbst zu gestalten. Dieses Grundprinzip grüner Politik wird sich auch in unserem neuen Grundsatzprogramm wieder spiegeln.
Im Programmentwurf setzen wir uns für Bürger*innen-Räte ein. Mit diesen soll die Möglichkeit geschaffen werden, bei ausgewählten Themen die Alltagsexpertise von zufällig ausgewählten Bürger*innen noch direkter in die Gesetzgebung einfließen zu lassen. Bürger*innen-Räte können nach unserer Vorstellung auf Initiative der Regierung, des Parlaments oder als Bürgerbegehren, also von unten aus der Bevölkerung heraus zu einer konkreten Fragestellung eingesetzt werden. Das soll auch auf Bundesebene möglich sein.
Wir halten diese Form der direkten Beteiligung am politischen Aushandlungsprozess in Zeiten starker Polarisierung und gesellschaftlicher Pluralisierung für ein passendes Instrument, um unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen wieder miteinander ins direkte Gespräch zu bringen. Denn nur so kann eine gemeinsame Idee für die Zukunft dieses Landes entwickelt werden, nur im Austausch von Argumenten und Perspektiven kann in einer zersplitterten Gesellschaft Zusammenhalt gesichert werden. Umso mehr gilt das in einer Situation, in der wir sehen, dass Institutionen verknöchern und dass das Pflegen von Privilegien und soziale Selektivität leider zur Zustandsbeschreibung unserer Demokratie gehört.
Um die gesellschaftlichen Gräben zu verringern und die Demokratie zu verbessern brauchen wir demokratische Strukturen, in denen die Bürger*innen sich beraten und einbringen können. Menschen, die sonst nie wirklich miteinander sprechen, müssen sich hier auf die Argumente der anderen einlassen. In einer Gesellschaft, die sich immer mehr in verschiedene Gruppen mit ihren eigenen Filterblasen zerteilt, stellen Bürger*innen-Räte ein Gegengewicht dar. Die Erfahrungen aus Bürger*innen-Räten weltweit zeigen, dass auf diese Weise gegenseitige Verständigung und gegenseitiger Respekt entstehen. Menschen, die an Bürger*innen-Räten teilgenommen haben, interessieren sich danach verstärkt für politische Fragen oder beginnen, sich selbst zu engagieren. Gerade, wenn es um Fragen geht, die die Gesellschaft spalten, wie etwa bei der Aufnahme von Geflüchteten oder Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise, oder auch bei Fragen, welche die Abgeordneten unmittelbar selber betreffen, etwa der Altersversorgung.
Parlamente brauchen eine größere Offenheit und bessere, vielfältigere Beratung, auch abseits von Lobbyismus und einer kleinen Gruppe von Expert*innen, sondern von dort, wo das (Zusammen-)Leben stattfindet. Bürger*innen-Räte politisieren die Beratung von Entscheidungsträger*innen. Das erhöht auch die Legitimation dieser Beratung, denn sie ist transparent und in eine breitere gesellschaftliche Debatte eingebettet.
Gute Aushandlungen über politische Fragen können dann entstehen, wenn sichergestellt wird, dass Menschen sich frei, gleich und fair eine Meinung bilden können, unbeeinflusst von Lobbyinteressen. Nicht als Konkurrenz zum Parlament, sondern als Ergänzung und Stärkung. Bürger*innen-Räte haben auch den Vorteil, dass wir mit ihnen dem Repräsentationsdefizit unseres politischen Systems begegnen können. Bei der Auswahl der Zufallsbürger*innen kann auf die repräsentative Verteilung etwa von Frauen oder Minderheiten geachtet werden und so garantiert werden, dass alle Stimmen gleichberechtigt und repräsentativ gehört werden. Im Bürger*innen-Rat soll die Gesellschaft in ihrer Breite und Vielfalt weitest gehend repräsentativ abgebildet sein und jeder Mensch in Deutschland die gleiche Chance haben, Teil des Rates zu werden.
Mit den Bürger*innen-Räten entstehen öffentliche Debatten aus unterschiedlichsten Perspektiven, mehr Repräsentanz gesellschaftlicher Gruppen, neue Ideen, ernsthafte Gespräche und gemeinschaftsorientierte Diskussionen. Menschen wie Du und ich erhalten plötzlich die Gelegenheit, wirklich zu gestalten und mitzuentscheiden. Es geht es um den Austausch von Argumenten, um zuhören, sich einlassen. Hass, Hetze, Lügen und Stammtisch-Parolen treten erfahrungsgemäß in den Hintergrund und verschwinden ganz, wenn es um konstruktiven Dialog geht.
All das sind Gründe, warum der Bundesvorstand von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Bürger*innen-Räte für die geeignete Form direkter Beteiligung auf Bundesebene hält. Aber wie Sie wissen, sind wir GRÜNE schon seit unserer Gründung eine basisdemokratisch ausgerichtete Partei. Unsere Mitglieder haben ein großes Mitspracherecht bei der künftigen Programmatik und bislang sind in unserer Parteizentrale weit über 1.000 Änderungsanträge zum neuen Grundsatzprogramm eingegangen, einige auch zu der Frage direkter Beteiligung und direkter Demokratie. Auf unserem kommenden (digitalen) Parteitag vom 20. bis 22. November werden wir unser neues Grundsatzprogramm und die am breitesten unterstützten Änderungsanträge ausgiebig diskutieren und dann das Programm in seiner endgültigen Fassung beschließen.