Frage an Franz-Josef Jung von Dr. Andreas van A. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Jung,
Vielen Dank für die Antwort, aber Sie argumentieren an dem Gerechtigkeitsempfinden der breiten Bevölkerung vorbei, die sich von formaljuristischen Argumenten nicht beeindrucken lässt. Der Schwachpunkt Ihrer Argumentation ist, dass sich danach auch Wehrgerechtigkeit feststellen lassen würde, wenn durch weiter verschärfte Auswahlkriterien schließlich nur noch 1000 Taugliche übrig bleiben und von denen 900 eingezogen würden. Ohne einen Bezug zur Jahrgangsgröße geht es nicht. Das Grundrecht auf Gleichbehandlung kann in einer Demokratie nicht von Etatzwängen abhängig sein. Warum garantiert die Regierung also nicht, dass mindestens 2/3 eines Jahrganges zu den verschiedenen Diensten herangezogen wird? Der jetzige Gestaltungsspielraum der Regierung ist deutlich zu hoch und wird als extrem ungerecht wahrgenommen. Das schreibe ich Ihnen auch als Exwehrpflichtiger, der durch die gegenwärtige Wehrpflichtpraxis seinen eigenen Dienst als vollkommen entwertet ansieht.
Kann die Regierung die 2/3 nicht garantieren, so muss die Wehrpflicht eben ausgesetzt werden. Das ist angesichts des internationalen Trends ohnehin mehr als angebracht. Schließlich ist die Wehrpflicht innerhalb der freien Welt fast gänzlich ausgesetzt worden, so dass die extreme Benachteiligung der Dienenden inzwischen sogar international geworden ist.
Die von Ihnen aufgeführten Vorteile der allgemeinen Wehrpflicht mögen stimmen oder auch nicht, sie beziehen sich aber eindeutig auf eine gelebte allgemeine Wehrpflicht im Sinne des Wortes. Die Auswirkungen der seit Jahren als massiv ungerecht empfundenen Wehrdienstpraxis haben sie nicht berücksichtigt. Der auch dadurch bewirkte massive Schwund des Rückhaltes der Wehrpflicht in der Bevölkerung und im Parlament kann nicht ohne Folgen bleiben. Woher nehmen Sie also die Zuversicht, an der Wehrpflicht festhalten zu können? Wie wollen Sie als 35 % Partei gegen den Widerstand aller die Wehrpflicht weiter rechtfertigen und aufrechterhalten?
Sehr geehrter Herr Dr. van Almsick,
für Ihre E-Mail vom 7. Juni 2008 zum Thema Wehrpflicht danke ich Ihnen.
Die Bundesregierung bekennt sich im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 zur allgemeinen Wehrpflicht und zum Zivildienst als Ersatzdienst für den Wehrdienst.
Sie argumentiert in Sachen Wehrpflicht keineswegs am "Gerechtigkeitsempfinden der breiten Bevölkerung vorbei". Unabhängig von der Sitzverteilung im Bundestag kann -- wie bereits in der Vergangenheit -- auch aktuell eine mehrheitliche Bejahung der Wehrpflicht durch die Bevölkerung festgestellt werden. Von einem Schwund der Zustimmung bzw. einem Widerstand aller kann deshalb nicht gesprochen werden (siehe auch: Sozialwissenschaftliches Institut der Bundeswehr, "Sicherheits- und verteidigungspolitisches Meinungsklima in der Bundesrepublik Deutschland", Forschungsbericht 84, April 2008).
Ihrer Bewertung, dass der Gestaltungsfreiraum der Bundesregierung im Zusammenhang von Tauglichkeitskriterien und Ausschöpfungsquote zu hoch sei, kann ich nicht zustimmen.
Die Regelungen zur Tauglichkeit sind im Hinblick auf eine qualitativ gute personelle Bedarfsdeckung der Streitkräfte sachgerecht getroffen worden und werden adäquat umgesetzt. Sie gewährleisten eine nachvollziehbare und faire Auswahl der zum Grundwehrdienst heranzuziehenden jungen Männer. Weder beruhen sie auf willkürlichen Erwägungen noch führen sie zu willkürlichen Ergebnissen. Eine Absenkung der gesundheitlichen Anforderungen an die Wehrpflichtigen würde aufgrund der Einsatzorientierung der Streitkräfte zu gravierenden Abstrichen bei der Aufgabenerfüllung führen.
Ihrer Forderung nach der Einberufung "von 2/3 eines Jahrgangs zu den verschiedenen Diensten" kann, unabhängig von den zuvor genannten Gründen, nicht entsprochen werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes ist bei der Betrachtung von Wehrgerechtigkeit, wie ich Ihnen bereits erläutert habe, nicht die Jahrgangsstärke als Ausgangsgröße zu Grunde zu legen, sondern das für die Bundeswehr verfügbare Aufkommen an jungen Männern. Diese Feststellung, an die ich gebunden bin, teile ich uneingeschränkt.
Der Schutz Deutschlands und seiner Bürger ist ein Verfassungsauftrag. Ein wichtiges Kriterium für Wehrform und Umfang der Streitkräfte zur Erfüllung dieses Auftrages ist der sicherheitspolitische Bedarf. Dieser Bedarf ist mehr als eine tagespolitisch orientierte Lageeinschätzung. Unabhängig von aktuellen Entwicklungen hat der Staat eine langfristige und weit reichende Sicherheitsvorsorge für seine Bürger zu treffen.
Durch die Wehrpflicht verfügt die Bundeswehr über personelle Reserven, die sie im Spannungsfall oder, soweit die besonderen grundgesetzlichen Voraussetzungen hierzu vorliegen, zur Hilfeleistung im Katastrophenfall aktivieren kann. Dieses Personal stünde ohne die Wehrpflicht in diesem Umfang nicht zur Verfügung. Ein demokratischer, fürsorglicher Staat tut gut daran, für alle Eventualitäten gerüstet zu sein. Seine Bürger haben ein Recht darauf.
Es wird deshalb keine Veranlassung gesehen, die Wehrpflicht auszusetzen oder gar abzuschaffen. Dies gilt auch angesichts gegenteiliger Entscheidungen unserer europäischen Partner, die die Wehrpflicht in jüngster Zeit abgeschafft oder ausgesetzt haben. Die negativen Erfahrungen mancher europäischer Partner, die man dort als Folge dieser Entscheidung gemacht hat, sind zusätzliche Argumente für unsere Entscheidung zur Beibehaltung der Wehrpflicht.
Die äußere Sicherheit unseres Landes ist unser aller Ziel; sie darf deshalb nicht als Experimentierfeld für risikoreiche Personalmodelle missbraucht werden. Deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik braucht eine solide personelle Basis.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Franz Josef Jung