Frage an Frank-Walter Steinmeier von Georg M. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Dr. Steinmeier,
ich war achtzehn Jahre Mitglied der SPD und bin nur wegen eines Wegzuges ins Ausland ausgetreten.
Zu meiner Zeit war die SPD eine tolerante Partei. Katholiken, Protestanten, Atheisten, jeder hatte seinen Platz. Religion war kein grosses Thema. Die SPD war eine wahre Volkspartei.
Heute lese ich, dass ein Viertel der SPD-Abgeordneten die Rede des Papstes vor dem Bundestag boykottieren wollen.
Das geht auf eine Boykott-Initiative des Abgeordenten Schwanitz zurück, der so sehr das Volk vertritt, dass er nach über 20 Jahren im Bundestag stolze 15,9 % der Erststimmen in seinem Wahlkreis einfährt.
http://www.bundestag.de/bundestag/wahlen/wahlkreise09/wahlkreise/wk167.html
Man kann über alle Themem diskutieren, Dotationen an die Kirche, Kirchensteuer oder ob der Papst überhaupt vor dem Bundestag reden soll.
ABER: Der Papst redet auf Einladung des Bundestagspräsidenten mit Zustimmung der SPD-Fraktion. Wie kann es dann möglich sein, dass ein Viertel der Abgeordneten die Veranstaltung boykottiert? Sie sollen nur zuhören und nicht katholisch werden.
Ist die SPD überhaupt noch Volkspartei, wenn ein Viertel der Abgeordneten so ideologisch eingefärbt sind, dass sie abweichenden Meinungen nicht einmal mehr zuhören?
Und sollten nicht aufgrund der jüngeren deutschen Geschichte gerade deutsche Parlamentarier ein Höchstmass an Toleranz zeigen?
Haben Sie als Fraktionsvorsitzender Schritte unternommen, dass eine geringere Anzahl von Abgeordneten die Rede boykottiert oder planen Sie dies zu tun, um die SPD nicht dem Vorwurf der Intoleranz auszusetzen?
Mit freundlichen Grüssen
Georg Misdroy
Sehr geehrter Herr Misdroy,
seien Sie beruhigt: Auch ich teile die Position derjenigen unter meinen Kollegen, die an der Papstrede nicht teilnehmen wollen, ausdrücklich nicht. Ich habe mich öffentlich und in meiner Fraktion klar gegen einen Boykott ausgesprochen. Mir geht es um den Respekt vor und den Dialog mit einem Staatsgast und Religionsoberhaupt, der immerhin weltweit mehr als 1 Milliarde katholische Christen und Christinnen repräsentiert. Die religiöse beziehungsweise weltanschauliche Neutralität der Bundesrepublik wird dadurch nicht infrage gestellt.Sicherlich gibt es auch berechtigte Kritik an Positionierungen der katholischen Kirche. Ein Boykott wäre aber der falsche Weg. Es ist doch allemal besser, dem Papst zuzuhören, als den Dialog zu verweigern. Dies gilt ganz unabhängig von einzelnen, kritikwürdigen Positionierungen, die sicher im Umfeld des Papstbesuches auch ausführlich debattiert werden und werden müssen.
In meiner Fraktion habe ich für eine Teilnahme an der Rede des Papstes geworben. Aber auch diejenigen meiner Kollegen, die den Papst nicht anhören möchten, sind frei gewählte Abgeordnete, und somit nur ihrem Gewissen verpflichtet. Insofern kann die Fraktionsspitze daher lediglich bitten und nichts verordnen. Mehr "Schritte" kann ich also nicht unternehmen, und halte dies auch nicht für geboten.
Ich bitte Sie zu bedenken, dass diejenigen Kollegen, die nicht an der Rede teilnehmen werden, keinesfalls für eine Mehrheit der Sozialdemokraten und Sozialdemokratinnen sprechen. Dies widerspräche auch eindeutig der historischen Tradition und dem Programm unserer Partei. Das Hamburger Grundsatz-Programm führt die religionspolitische Linie des Godesberger (1959) und des Berliner Programms (1989) weiter. Es nennt die jüdischen und christlichen Wurzeln der SPD gleichberechtigt neben Humanismus und Aufklärung, marxistischer Gesellschaftsanalyse und den Erfahrungen der Arbeiterbewegung. Es bekennt sich zur Achtung vor den Kirchen und Religionsgemeinschaften, zur Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit ihnen und zur Anerkennung von deren Recht, ihre inneren Angelegenheiten selbst zu regeln. Für die SPD sind die Kirchen und Religionsgemeinschaften, so heißt es wörtlich, „unverzichtbare Partner auf dem Weg zu einer humanen, zukunftsfähigen Gesellschaft“.
Die große Mehrheit meiner Fraktion, darunter die komplette Fraktionsführung, wird bei der Papstrede anwesend sein. Aus diesem Grund sehe ich die Abwesenheit einiger meiner Kollegen etwas gelassener als Sie. Sowohl unsere Demokratie als auch der Papst werden es aushalten, wenn einige Abgeordnete in dieser Frage eine andere Position vertreten. Denn auch das gehört zu der Toleranz, die Sie einfordern.
Mit freundlichen Grüßen,
Frank-Walter Steinmeier