Frage an Frank-Walter Steinmeier von Ludwig P. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Steinmeier,
in der Sueddeutschen Zeitung findet sich ein Artikel mit der Überschrift "Steinmeier bringt Neuwahlen ins Gespräch".
Mich würde einfach mal interessieren, wie das funktionieren soll, da der Bundestag ja das entsprechende Urteil des BVG drei Jahre lang ignoriert hat und die Bundesrepublik jetzt kein geltendes Wahlgesetz mehr hat.
Außerdem würde mich auch noch interessieren, was dieses Verhalten für rechtliche Konsequenzen für die Abgeordneten haben wird. Oder ist es egal, was das BVG entscheidet und niemand muss irgendwelche Konsequenzen fürchten, wenn Urteile schlicht ignoriert werden? Ist dieses Gericht nicht eigentlich überflüssig, wenn es die Bundesregierung ja offensichtlich sowieso nicht sonderlich interessiert, wie dort geurteilt wird? Durch die drei Jahre lange Ignoranz hat die Bundesregierung dem BVG ja auch mehr als deutlich zu verstehen gegeben, was sie von dessen Entscheidungen hält.
Ist es nicht so, dass die Regierung der Bundesrepublik jetzt praktisch die demokratische Grundlage entzogen hat? Was bleibt von einer Demokratie noch übrig, wenn es kein Wahlgesetz gibt?
Mit freundlichen Grüßen und der Hoffnung auf eine ehrliche Antwort,
Ludwig Persson
Sehr geehrter Herr Persson,
Sie sprechen ein in der Tat sehr ernstes verfassungsrechtliches Problem an: Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2008 unser Wahlrecht für verfassungswidrig erklärt und eine Frist bis zum 30.6.2011 gesetzt, ein neues Wahlrecht zu beschließen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat rechtzeitig einen Gesetzentwurf für ein neues Wahlrecht in den Deutschen Bundestag eingebracht. Neben dem negativen Stimmgewicht müssen vor allem Überhangmandate wegen ihrer verzerrenden Wirkung ausgeglichen werden. Bei einem knappen Bundestagswahl-Ergebnis bergen Überhangmandate die Gefahr, dass die Parteien mit den meisten Zweitstimmen nicht die Mehrheit der Sitze im Bundestag haben. Die Überhangmandate können den im Zweitstimmenergebnis dokumentierten Wählerwillen umdrehen.
CDU/CSU und FDP ließen hingegen die Drei-Jahres-Frist, die das Bundesverfassungsgericht zur Behebung der Mängel gesetzt hat, verstreichen. Sie waren lange Zeit schlicht untätig. Diese Dreistigkeit, mit der CDU/CSU und FDP das Bundesverfassungsgericht missachteten, ist empörend. Erst auf den letzten Drücker unmittelbar vor Ablauf der Frist legten sie einen Gesetzentwurf vor, der jedoch völlig unzureichend ist und die verfassungsrechtlichen Probleme nicht behebt. Tatsache ist, wie Sie völlig korrekt schreiben: Seit Ablauf der vom Bundesverfassungsgericht gesetzten Frist am 30. 6.2011 haben wir kein anwendbares Wahlrecht mehr. Dies ist offenkundig ein sehr schwerwiegender Vorgang, da es sich beim Wahlrecht um einen essentiellen Bestandteil der Demokratie handelt. Eine Neuwahl nach dem alten, verfassungswidrigen Recht wäre deshalb ungültig. Würde die Wahl dennoch durchgeführt werden, müsste das Bundesverfassungsgericht den Bundestag auflösen.
Dies ist ein wirklich außergewöhnlicher Zustand, der nicht tragbar ist. Wenn sich die Koalitionsfraktionen nicht bewegen und es deshalb nicht gelingen sollte, bis Ende September ein verfassungsgemäßes Wahlrecht im Bundestag zu verabschieden, werden wir als SPD-Bundestagsfraktion mit einer Untätigkeitsklage vor das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe ziehen. Denn es kann und darf nicht sein, dass die Bundesregierung die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes schlicht und einfach übergeht.
Mit freundlichen Grüßen,
Ihr Frank-Walter Steinmeier