Frage an Frank Gotthardt von Kai S. bezüglich Bildung und Erziehung
Sehr geehrter Herr Gotthardt,
das Kompetenzteam Andrea Ypsilantis beherbergt den seit 30 Jahren in Finnland lebenden Bildungsexperten Rainer Domisch, der im Falle des Wahlsiegs der SPD das hessische Schulsystem dem finnischen
angleichen wird. Die PISA-Studie zeigt uns, dass der Prozentsatz der finnischen Schüler in den unteren Kompetenzstufen der getesten Fähighigkeiten sehr gering ist, zugleich in den oberen Kompetenzstufen sehr hoch ist. Selbst die hessischen Gymnasiasten können in den oberen Kompetenzstufen nicht mit den finnischen mithalten. Ist dies Ihrer Meinung nicht ein eindeutiges Zeichen dafür, dass das gegliederte Schulsystem ein Fehler ist, sei mal die soziale Ungerechtigkeit eben dieses Schulsystems ausgeklammert?
MfG
Kai Scholl
Sehr geehrter Herr Scholl,
für Ihre Frage danke ich Ihnen sehr herzlich.
Aus meiner Sicht ist es nicht machbar, Schulsysteme einfach zu vergleichen und schon gar nicht machbar, sie zu kopieren. Schon aus diesem Grund erklären sich in unterschiedlichen Bereichen unterschiedliche Bewertungsergebnisse. Wir wollen, dass Eltern und Schüler auch in Zukunft darüber entscheiden können, welche Schule sie besuchen wollen. Wir haben im Landkreis Marburg-Biedenkopf und in der Universitätsstadt Marburg zum Glück eine breite Palette von Schulen: Hauptschulen, Realschulen, Gesamtschulen, Gymnasien, Förderschulen usw., übrigens mit der Otto-Ubbelohde-Schule auch ein Angebot bis zur 6. Klasse gemeinsam unterrichtet zu werden. Deshalb kann jeder Schüler die Schule besuchen, die zu seinen Fähigkeiten passt und seinen Wünschen entspricht. Dies soll aus meiner Sicht auch so bleiben. Ich bin dagegen, dass es in Zukunft nur noch eine Schulform geben soll, so wie dies von der SPD geplant ist. Vielfalt ist Stärke und sorgt auch dafür, dass wir alle Schüler optimal fördern können. Eine Einheitsschule, auf die dann alle gehen müssen darf es aus meiner Sicht nicht geben.
Lassen Sie mich abschließend aber auch noch einige weitere Zahlen hinzufügen, die auch zur Wahrheit gehören und die zeigen, dass das finnische System auch nicht in allen Bereichen vorbildlich und beispielhaft ist: Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit über 20 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Hessen mit 9,1 % (August 2007). Außerdem ist nach einer UNICEF-Studie von 2007 die Schüler-Unzufriedenheit in Finnland im Vergleich von 21 Industriestaaten am höchsten.
Der Ausländeranteil in finnischen Schulen beträgt nur 2 %. In Hessen Schulen, gerade in den Ballungsräumen bis zu 50%. Es gibt zwar kleine Schulen und kleine Klassen, aber der Schulweg beträgt auf Grund der geografischen Gegebenheiten vereinzelt bis zu 2 Stunden und ist ungleich höher als in Hessen. Sie sehen, die Systeme sind nicht einfach zu vergleichen und auch nicht nur zu übernehmen.
Ein anderes Beispiel: Japans schneidet in der Pisa Studie ebenfalls gut ab. Dazu muss man aber auch sagen, dass das Schulsystem und die Schülerstruktur sehr selektiv gestaltet sind. Auch hier lassen sich die Rahmenbedingungen nicht immer einfach vergleichen bzw. übertragen.
Eine letzte Bemerkung: Die Worte "Ich kenne die Verhältnisse in Hessen nicht so gut." stammen übrigens von Herrn Domisch, also jenem Bildungsexperten, dessen Vorstellungen in der Oberhessischen Presse vom 9. Januar 2008 auch mit "Schlaraffenland" umschrieben wurden.
Wir bleiben dabei: Schüler sind individuell und deswegen muss es auch individuelle Schulangebote geben.
In diesem Sinne danke ich Ihnen sehr herzlich für Ihre Anregungen und bin sicher, dass Sie meine Argumente mit Blick auf die Vergleichbarkeit von Schulsystemen sicher nachvollziehen können.
Mit freundlichen Grüßen,
Frank Gotthardt