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Ekin Deligöz
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Frage von Julia D. •

Frage an Ekin Deligöz von Julia D. bezüglich Jugend

Sehr geehrte Frau Deligöz,

ich habe vor Gut einer Stunde Ihre Standpunkte zur Chipkarte für Harz4-Kinder mit Interesse im Deutschland Funk verfolgt und empfinde viele Ihrer Bedenken als gerechtfertigt. Ich bewundere Ihre Weit- und Übersicht des Problems, denke aber trotz dem, das dies eine sehr gute Möglichkeit ist die Sozialen Schichten zu durchmischen. Kinder die sich im Freibad treffen fragen nicht nach ihrem Elternhaus, bevor sie sich anfreunden.
Ich finde diese Chance auf einen sozialen Aufstieg sollte unserem Staat einiges Wert sein, zumal er ja durch die hoffentlich dadurch sinkende Arbeitslosigkeit einiges gewinnt.

Meine Frage an Sie wäre es, was Sie denn anstatt der Chipkarte vorschlagen, um solch einen Effekt zu erzielen. Sollte man nicht besser so ein Instrument nutzen und es mit Hilfe der Betroffenen bei Bedarf verbessern?

Mit freundlichen Grüßen,
Julia Duras

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Antwort von
Bündnis 90/Die Grünen

Sehr geehrte Frau Duras,

zum Thema ‚Bildungschipkarte‘ sind in den letzten Wochen vielfältige Argumente in öffentlichen Debatten ausgetauscht worden. So auch in der von Ihnen erwähnten Rundfunksendung. Ich möchte mich in meiner Antwort daher auf einige Kerngedanken im Hinblick auf Ihre Nachfrage beschränken.

Die Schaffung sozialer Teilhabe und, wie Sie schreiben, von sozialen Aufstiegsmöglichkeiten hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wenn man die derzeitige öffentliche Debatte verfolgt , kann man allerdings den Eindruck gewinnen, dass dieses Ziel möglicherweise einzig und allein mit der Einführung einer solchen Chipkarte erreichbar sei. Zumindest geraten derzeit durch die angeheizten Debatten andere, sehr elementare Sachverhalte aus dem Blick.

Als erstes ist die Ausgestaltung des Regelsatzes für Kinder im Rahmen von Hartz IV zu nennen. Das Bundesverfassungsgericht hatte die bisherige Bemessung des Regelsatzes für Kinder als unzureichend kritisiert. Der Gesetzgeber darf demnach nicht mehr wie bislang den Kinderregelsatz einfach vom Erwachsenenbedarf prozentual ableiten. Als verfassungswidrig wurde ferner kritisiert, dass keine Bildungsleistungen im Kinderregelsatz ausgewiesen sind. Das muss die Bundesregierung nun gründlich überarbeiten. Sie wird bis Ende des Jahres eine neue ‚Zusammenstellung‘ der Regelsatzleistungen erarbeiten und transparent machen müssen. Dazu gehört natürlich auch, die Höhe dieser Leistungen genau zu beziffern. Genau das ist bislang nicht erfolgt, obwohl es doch die entscheidende Frage ist, welche Leistungen in welcher Höhe bedürftige Kinder künftig erhalten werden. Die bisher kursierenden Zahlen und auch die bisher im Bundeshaushalt vorgesehenen Mittel lassen eine nur sehr bescheidene Reform erwarten. Das würde nicht den allgemeinen Erwartungen über die notwendige Förderung von Kindern Rechnung tragen – egal, ob das dann über Bargeld oder Chipkarte abgewickelt wird! Es wird jetzt mit Spannung abzuwarten sein, wie die generelle Reform der Regelsatzbemessung ausgehen wird. So wie viele Experten und Fachverbände meine ich zudem, dass das Gros der Eltern – auch der im Hartz IV-Bezug – sich verantwortlich um ihre Kinder kümmern. Diejenigen, die das nicht tun, werden nicht durch eine Chipkarte einsichtig werden und mehr Erziehungskompetenz erreichen. Sie würden im Zweifel das Guthaben auf der Karte verfallen lassen. Da sind andere Wege der Ansprache und Überzeugung gefragt.

Ich halte also eine angemessene Berücksichtigung von Bildungskosten im Regelsatz für unabdingbar. Zum zweiten ist es notwendig, die bisherigen Bildungs- und Förderangebote auszubauen und vor allem qualitativ zu stärken. Das gilt für Kindertageseinrichtungen und Schulen ebenso wie für die offene Jugendarbeit und die diversen Angebote für Kinder und Jugendliche auf kommunaler Ebene. In Kitas und Schulen bestehen fast überall klare Verbesserungsmöglichkeiten. Diese Einrichtungen erreichen nahezu alle Kinder und Jugendlichen. Von den Vierjährigen in Deutschland besuchen 96% den Kindergarten, bei den Fünfjährigen sind es 98% und in die Schulen müssen alle Kinder gehen. Also liegt hier ein zentraler Schlüssel für eine bestmögliche Förderung und Schaffung von Bildungsgerechtigkeit. Ebenso sind die vielfältigen offenen Angebote für Kinder und Jugendliche auf kommunaler Ebene – und die Frage von Beiträgen dafür - in den Blick zu nehmen. Hier haben wir das Problem, dass gerade in diesem Bereich etliche Städte und Gemeinden die Angebote im Laufe der Jahre massiv zurückgefahren haben. Da diese Angebote keine gesetzlichen Pflichtleistungen sind, können (oder müssen) die Kommunen hier Geld sparen. Dieser Trend muss gestoppt und umgekehrt werden. Das wird jedoch nicht mittels der Chipkarte gelingen. Im Gegenteil, die Umsetzung dieses Systems vor Ort ist nur mit immensem Aufwand zu leisten und etliche alltagspraktische Fragen sind noch völlig offen. Eine dieser Fragen lautet, wie verhindert werden soll, dass Kommunen, die bestimmte Kultur- oder Sportangebote für bedürftige Kindern kostenfrei oder ermäßigt anbieten, nicht einfach nach Einführung der Chipkarte die Gebühren entsprechend anheben und damit für die betroffenen Kinder nichts oder nur sehr wenig gewonnen wäre.

Wir setzen uns dafür ein, dass alle Kinder in diesem Land gute Startchancen für ihr Leben bekommen und zwar unabhängig von ihrer Herkunft. Damit das gelingen kann brauchen wir beides: eine angemessene materielle Absicherung und eine Betreuungs- und Bildungsinfrastruktur, die Kinder entsprechend ihrer individuellen Fähigkeiten und Bedürfnisse fördert.

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