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Frage von Lisa M. •

Frage an Ditmar Staffelt von Lisa M. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen

Sehr geehrter Herr Dr. Staffelt,

Zitat " Die Größe des Landes: Russland ist mit Abstand das größte Land der Welt, knapp viermal größer als die EU. Die Bevölkerungszahl: Ein Großteil des Landes liegt in Asien. "
Die Türkei liegt auch in Asien und über deren Beitritt wird verhandelt. Wie soll ich das verstehen? Ich bin auch der Meinung, das die Russen eher zu unseren Traditionen passen als die Türken. Sie als Neukölner haben doch jeden Tag die türkisch-islamische Parallelgesellschaft vor Augen, die alles andere als europäisch ist. Darf ich fragen was der Beitritt von Rumänien uns Deutschen für Vorteile bringt? Meinen Sie die Zuwanderung der Zigeuner, die unsere Straßen bereichern oder meinen sie die Abwanderung von Firmen aus Deutschland nach Rumänien?

mit freundlichen Grüßen

Lisa Müller

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Antwort von
SPD

Sehr geehrte Frau Müller,

vielen Dank für Ihre Anfrage.

Wie ich in der Antwort vom 30. Mai erklärt habe, sind mehrere Voraussetzungen für die Aufnahme eines Landes in die Europäische Union verpflichtend. Die geographische Lage ist auch ein wichtiger Aspekt, jedoch, wie man am Beispiel Türkei sehen kann, nicht der entscheidende. Der Europäische Rat hat im Juni 1993 die sogenannten Kopenhagener Kriterien als verbindliche Aufnahmekriterien beschlossen. Die Länder, die einen Antrag auf Mitgliedschaft in der EU stellen, müssen die in Artikel 49 des Vertrags über die Europäische Union festgelegten Bedingungen einhalten und die in Artikel 6 Absatz 1 genannten Grundsätze achten. Neben politischen und wirtschaftlichen Kriterien (institutionelle Stabilität, Rechtsstaatlichkeit, eine funktionsfähige Marktwirtschaft, etc.) muss der Beitrittskandidat sich die Ziele der politischen Union sowie der Wirtschafts- und Währungsunion zu Eigen machen und die Pflichten erfüllen, die sich aus dem EU-Recht und den Politiken der EU ergeben.

Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft hatte bereits 1963 mit der Türkei das so genannte „Abkommen von Ankara" zur Gründung einer Assoziation geschlossen, das schon damals eine Beitrittsperspektive beinhaltete. Ihr wurde 1999 auf dem EU-Gipfel in Helsinki der Status eines Kandidaten zuerkannt. Seit 2005 laufen die Beitrittsverhandlungen über die EU-Vollmitgliedschaft, vorher hatte es bereits beachtliche Fortschritte bei der Annäherung an die Erfüllung der politischen Kriterien gegeben. Die EU eröffnete am 3. Oktober offiziell die Verhandlungen. Dem lag ein Beschluss des Europäischen Rates vom 17.12.2004 zugrunde, wonach festgestellt wurde, „dass die Türkei die Politischen Kriterien von Kopenhagen für die Eröffnung von Beitrittsverhandlungen hinreichend erfüllt“.

Spricht man nun über die Motive, die Türkei an die EU weiter heranzuführen, so sind eine Vielzahl von Gründen zu nennen: strategische Gründe, um beispielsweise dem mehrheitlich muslimisch geprägten Land, eine Perspektive abseits vom politischen Islamismus zu bieten; geopolitische Gründe, als vermittelnder Brückenstaat zwischen Europa und der arabischen Welt mit Vorbildfunktion; langjährige Mitgliedschaften der Türkei in „westlichen" und europäischen Organisationen wie der NATO, dem Europarat oder der OSZE; usw.

Die Türkei ist seit dem Kalten Krieg ein verlässlicher Partner des Westens. Heute arbeitet Ankara aktiv bei der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mit und beteiligt sich an internationalen Friedensmissionen.

Für die EU wächst die Bedeutung der Türkei als stabiles, europaorientiertes Land in der unruhigen Großregion „Broader Middle East“. In dieser Krisenzone mit den Konflikten im Irak und im Nahen Osten, mit den Herausforderungen durch die Atompolitik im Iran und die regionalen Aktivitäten Syriens gilt die Türkei als Stabilitätsanker, auch mit großen Einflusschancen auf die türkischsprachigen Länder Zentralasiens.

Im globalen Kampf gegen den internationalen Terrorismus kann die Aufnahme von Verhandlungen mit der Türkei eine Schlüsselrolle spielen: Die Entscheidung einer so großen und bedeutenden islamischen Gesellschaft, den europäischen Weg zu gehen und ihre Einbindung in die EU und damit in die westliche Welt entmutigt alle Hoffnungen des radikalen Islamismus auf eine dauerhafte Konfrontation Westen – Islam.

Auf wirtschaftlichem Gebiet ist die Annäherung der Türkei an Deutschland und die EU bereits auf bestem Wege. Deutschland ist seit langem wichtigster Handelspartner der Türkei. Im Jahr 2007 nahm der Handel in beide Richtungen gegenüber dem Vorjahr erneut kräftig zu. Das bilaterale Handelsvolumen überstieg in diesem Zeitraum mit rund 25 Milliarden Euro den Rekordwert des Vorjahres mit 23,6 Mrd. Euro. Deutschland ist führend bei Direktinvestitionen in der Türkei. Andererseits gibt es in Deutschland mehr als 70.000 türkische Selbstständige, die zusätzliche Arbeitsplätze schaffen. Nicht zuletzt wirkte sich die Perspektive der EU-Mitgliedschaft günstig auf das Geschäfts- und Investitionsklima aus.

Wie Sie sehen, bleibt die Aufnahme der Türkei in die EU ein Thema, das jedoch erst in der Zukunft entschieden werden kann. Selbstverständlich gehört zu diesem Prozess auch eine Diskussion über die Identifikation. Denn zweifelsohne müssen wir alle wollen, dass eine breite Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sich mit der EU identifizieren kann. Was Russland angeht, stellt sich die Frage eines EU-Beitritts nicht. Moskau hat den Wunsch bisher nicht geäußert, Teil der EU zu werden. Ich sehe keinen Anhaltspunkt, dass sich diese Situation in Zukunft ändern wird. Für die EU ist es nun an der Zeit, das neue strategische Partnerschaftsabkommen mit Russland schnellstmöglich abzuschließen, und auf dieser Basis weiterhin ein konstruktives Verhältnis zu unserem östlichen Nachbarn aufrechtzuerhalten und auszubauen.

Nicht zuletzt aus diesem Grund war die Osterweiterung ein wichtiger Schritt für die EU. Die Mitgliedschaft von Rumänien und Bulgarien ist aus verschiedenen Gründen, insbesondere politischen, ökonomischen, sicherheitspolitischen und kulturellen, im Interesse Deutschlands und der EU. Die europäische Teilung konnte nun nach langer Zeit mit der Aufnahme der osteuropäischen Länder überwunden werden. Wie ich in meiner ersten Antwort bereits darlegte, hat Europa mit der Erweiterung Frieden und Stabilität auf Dauer gesichert. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht wurde die Rolle der EU in der Welt gestärkt: die EU kann als Investitionsstandort selbstbewusst die Herausforderungen des globalen Wettbewerbs vor allem der aufstrebenden Schwellenländer annehmen.

Ohne Zweifel ist uns die Entscheidung für die Aufnahme Bulgariens und Rumäniens nicht leicht gefallen, da möglicherweise nicht alle von unserer Seite gestellten Anforderungen zunächst hundertprozentig erfüllt wurden. Aus diesem Grund war es wichtig, den Reformdruck von europäischer Seite hochzuhalten. Auch in Südosteuropa müssen weitgehende Reformen weiter angemahnt werden. Es kann aus europäischer Sicht lediglich eine Frage der Zeit sein, wann der gesamte Balkan in die EU aufgenommen wird, um auch dort Frieden und Stabilität langfristig zu sichern. So kann das „Erfolgsprojekt Europa“ auch im Südosten des Kontinents Früchte tragen.

Dass Unternehmen, wie Sie anführen, auch in den neuen EU-Mitgliedsländern investieren möchten, kann ich ihnen nicht vorwerfen. Sie sind gleichberechtigter Teil der Europäischen Union. Es ist meiner Meinung nach auch wichtig, dass die ost- und mitteleuropäischen Staaten ökonomisch und politisch profitieren. In unserer Marktwirtschaft wird es immer wieder vorkommen, dass Firmen sich die für sie geeignetsten Produktionsstandorte auswählen und andere Standorte aufgeben. Gleichwohl muss darauf geachtet werden, dass EU-Länder über Subventionen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Eines allerdings ist seit langem belegt: Deutschland ist - wirtschaftlich gesehen - der Hauptprofiteur der EU. Ein Europa mit 450 Millionen Einwohnern bietet einen hervorragenden Binnenmarkt für die deutsche Wirtschaft, nicht umsonst sind wir auch wegen unserer Exporte innerhalb der EU Exportweltmeister der letzten Jahre geworden.

Die Zuwanderung aus Rumänien ist derzeit für Deutschland kein politisches Thema. Ihre Aussage in Bezug auf die Zuwanderung der „Zigeuner“ ist von Ihnen scheinbar bewusst diskriminierend eingesetzt worden. Ein wichtiger Teil des EU-Wertekanons ist die Nichtdiskriminierung von Minderheiten. Vielleicht sollten Sie über dieses Thema etwas bewusster nachdenken.

Recht haben Sie jedoch damit, dass islamische Parallelgesellschaften in Deutschland alles andere als europäisch sind. Diese Parallelgesellschaften schotten sich ab und stehen einer wirklichen Integration in das europäisch-deutsche Gemeinwesen gegenüber, das für Werte wie Menschenrechte, Pluralismus und Zivilgesellschaft steht. Allerdings ist dieses Phänomen kein Türkei-spezifisches. Darüber hinaus ist es meiner Ansicht nach sehr eindimensional, derart undifferenziert von gescheiterten Integrationsbemühungen zu reden und dies mit dem Hinweis der Unfähigkeit der Türkei sich erfolgreich in die EU integrieren zu können, zu verbinden. Zum einen gibt es sehr wohl Integrationserfolge, zum anderen hat sich die Türkei in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Die nächsten Jahre werden über die weitere Entwicklung und den Integrationsprozess der Türkei entscheiden.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Ditmar Staffelt