Frage an Dirk Fischer von Frank R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Fischer,
in Hamburg spricht sich die CDU für Volksentscheide aus, auch wenn die CDU-Fraktion vor kurzem das Verfahren verschärft hat und die freie Unterschriftensammlung verboten hat.
Wie sieht es auf Bundesebene aus? Werden Sie persönlich für die Einführung von Volksbegehren und Volksentscheiden ins Grundgesetz eintreten?
Danke und freundliche Grüße
Frank Rehmet
Sehr geehrter Herr Rehmet,
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 08.12.2006, zur Einführung von Volksabstimmungen auf Bundesebene. Gern erläutere ich Ihnen die Position der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu diesem Thema.
Das Grundgesetz hat sich nach den Erfahrungen aus der Weimarer Republik für eine strikt repräsentative Demokratie entschieden und bis auf die Neugliederung des Bundesgebietes (Art. 29) plebiszitären Elementen eine Absage erteilt. Wenn es in Art. 20 Abs. 2 GG heißt, die Staatsgewalt werde vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt, dann räumt das GG den Ländern damit durchaus die Option ein, für ihren Bereich und den der Kommunen Plebiszite durchzuführen.
Auch heute sprechen noch gravierende Gründe gegen eine Aufnahme plebiszitärer Elemente (Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid) in das GG.
1. Die Komplexität einer Gesetzgebungsmaterie und ihre Vernetzung mit anderen Regelungsbereichen lassen in einer modernen pluralistischen Demokratie eine Ja/Nein-Alternative nicht zu. Gefordert ist ein Entscheidungs- und Gesetzgebungsverfahren, das auf ein hohes Maß an Kompromisssuche und Kompromissfindung angelegt ist. Dafür ist das parlamentarische Verfahren mit seinen drei Lesungen und den Ausschussberatungen am besten geeignet.
2. Demagogie und Populismus wären bei einem Plebiszit Tür und Tor geöffnet. Dies bewirkt auch, dass sachfremde Erwägungen in den Entscheidungsprozess einfließen oder gar den Ton angeben. Es geht dann nicht um das Gesetzgebungsvorhaben als solches, sondern darum, die Regierung oder die Opposition allgemeinpolitisch "abzuwatschen". Plebiszite sind sehr stark momentanen Stimmungen unterworfen. Würde heute ein Kinderschänder einen grausamen Mord verüben, würde die Zustimmung zur Einführung der Todesstrafe sprunghaft ansteigen, nach ein, zwei Monaten aber wieder abnehmen, da der unmittelbare emotionale Eindruck des Ereignisses verflogen ist.
3. Der Minderheitenschutz wäre gefährdet, da weder die Gruppen, die für die "richtige" Entscheidung werben, noch die Stimmbürger dem Gemeinwohl verpflichtet sind.
4. Plebiszite geben darüber hinaus aktiven Minderheiten und gut organisierten Vertretern partikularer Interessen das Instrumentarium, ihre Macht noch stärker als bisher auf Bundesebene durchzusetzen. Die Bürger könnten angesichts der erforderlichen Quoren ihre Initiativen in aller Regel nicht selbst vorantreiben, sondern wären auf die Unterstützung von Verbänden und Vereinigungen angewiesen. Infolgedessen besteht die Gefahr der Bevormundung des Bürgers durch demokratisch nicht legitimierte Vereinigungen.
5. Plebiszite zögen unweigerlich die Schwächung föderaler Strukturen nach sich. Darin änderte sich auch nichts durch die Einführung eines Länderquorums. Dem Bundesrat, der nicht lediglich eine Summe der Länder, sondern eine selbständige Einheit innerhalb unseres Systems ist, wäre die Möglichkeit der Mitgestaltung genommen. Damit ginge die ausgewogene Balance zwischen zentral- und gliedstaatlichen Entscheidungsbefugnissen in der Bundesgesetzgebung, vermittelt durch das Miteinander von Bundestag und Bundesrat, verloren.
6. Es ist illusionär zu erwarten, dass die Einführung plebiszitärer Verfahren die sog. "Parteienverdrossenheit" überwinden könnte. Eher ist das Gegenteil zu befürchten. Denn wenn Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid mit in das Grundgesetz aufgenommen würden, so würden sich - legitimerweise - auch die politischen Parteien dieser Verfahren bedienen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Durchführung solcher Verfahren in aller Regel ihrer Organisation und Initiierung bedarf. Wenn die politischen Parteien aber die freie Entscheidung darüber hätten, ob sie ein bestimmtes Anliegen auf plebiszitärem oder parlamentarischem Wege verfolgen wollten, drohte erneut die Flucht aus der parlamentarischen Verantwortung. Darüber hinaus wüchse die Macht der politischen Parteien gegenüber dem heutigen Rechtszustand noch dadurch, dass ihnen neben ihren parlamentarischen Entfaltungsmöglichkeiten auch die Wege zur Anrufung wie die Organisation von Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid eröffnet würden. Zudem trügen plebiszitäre Verfahren zu einer schleichenden Abwertung des Parlaments bei. Wegen des Anscheins einer "höheren Legitimität des unmittelbaren Volksgesetzes" gegenüber dem "nur mittelbaren Parlamentsgesetz" könnte eine Entwicklung dahingehend eintreten, das Parlament nur noch in weniger wichtigen Fragen entscheiden zu lassen. Entscheidungsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Parlaments könnten auch dadurch beeinträchtigt werden, dass in schwierigen, politisch sensiblen Fragen Plebiszite den parlamentarischen Entscheidungsträgern die Flucht aus der Verantwortung ermöglichten.
7. Die Einführung plebiszitärer Elemente würde das parlamentarische Regierungssystem nicht ergänzen, sondern grundlegend verändern. Denn das ausbalancierte Verhältnis der Verfassungsorgane zueinander müsste neu justiert werden. Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und auch das Bundesverfassungsgericht erleiden eine Einbuße ihrer Befugnisse, die anderweitig irgendwie kompensiert werden müsste. Bisher bildet die Bundestagsmehrheit zusammen mit der Bundesregierung eine "Staatsleitung zur gesamten Hand". Ein Großteil der Gesetzesinitiativen geht von der Bundesregierung aus. Nicht nur der Bundestag, sondern auch die Bundesregierung verlöre rapide an Einfluss und politischer Gestaltungskraft. Das gleiche gilt für den Bundesrat. Das Bundesverfassungsgericht wird sich ungleich schwerer tun, ein vom Volk beschlossenes Gesetz aufzuheben, als wenn es vom Parlament verabschiedet worden ist.
Für die Zukunft kommt es darauf an, das parlamentarische System weiter auszubauen, nicht aber, es abzubauen. Verantwortung muss gestärkt, nicht geschwächt werden.
Mit freundlichen Grüßen
Dirk Fischer