Frage an Daniela Wagner von Friedhelm S. bezüglich Menschenrechte
Sehr geehrte Frau Wagner,
seit 10 Wochen sind die Grundrechte massiv, in zuvor nie dagewesenem Umfang, und in einem für die Größe der Katastophe (Definition große Katastrophe bislang bei Epidemie bei > 75000 Todesfällen) in meinen Augen völlig unangemessener Weise beschränkt. Die Lockerungen kommen - insbesondere für Kitas, Schulen u. Kinder allgemein - viel zu spät. Wie stehen Sie als Grüne zu den Maßnahmen und den schleppenden Lockerungen?
Freundl. Grüße
F. S., Pfr.
Sehr geehrter Herr Schneider,
herzlichen Dank für Ihre Frage.
Durch das Handeln der Regierungen in Ländern und im Bund konnten in Deutschland Todesfälle in dem von Ihnen beschriebenen Ausmaß verhindert werden.
Auf den Seiten des Robert Koch Instituts finden Sie einen Steckbrief über das neuartige Virus mit den vielfältigen Risiken: https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html
Neben den spezifischen gesundheitlichen Risiken insbesondere für bestimmte Bevölkerungsgruppen birgt die aktuelle Situation auch große Gefahren für unsere Demokratie, den Rechtsstaat und in letzter Konsequenz möglicherweise auch für unsere Verfassung. Richtig ist auch, dass auch die zum Schutz gegen diese gesundheitlichen Risiken ergriffenen Maßnahmen selbst wiederum mit eigenen gesundheitlichen Risiken verbunden sind: Auch Arbeitslosigkeit, eine schlechtere Gesundheitsversorgung oder Pflege oder mangelnde Bildung haben kurz- und langfristig erhebliche Gesundheitsfolgen. Deswegen müssen Präventionsmaßnahmen möglichst differenziert und immer das Ergebnis einer Gesamtabwägung sein (also all diese Folgen mit einbeziehen). Das zu leisten ist Aufgabe der Politik – nicht der Regierung allein, wobei der Regierung jedoch ein großer Teil dieser Aufgabe zufällt.
Daneben bestand oder besteht die Sorge, dass das Parlament in seiner Gegenrolle zur Regierung geschwächt wird. Die größte Gefahr besteht dabei darin, dass Feinde der Demokratie die aktuelle Lage ausnutzen oder sich das Parlament selbst entmachtet. Das ist bisher (bis auf eine Verordnungsermächtigung im Gesundheitsbereich, die bisher noch nicht entsprechend angewendet und ach nicht korrigiert werden kann) nicht geschehen. Im Gegenteil. Es ist den Parlamentariern gelungen, zu zeigen, dass sie den Parlamentsbetrieb auch unter erschwerten Bedingungen aufrechterhalten können. Der Bundestag ist und war voll handlungsfähig. Für die Opposition bedeutet das u. a., dass wir weiter mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln daran arbeiten, die Regierung zu kontrollieren. Dabei will ich gar nicht verhehlen, dass es durchaus auch schon den Versuch gegeben hat, uns das mit Hinweis auf die aktuelle Situation etwas schwer zu machen. Aber das sind Einzelfälle und gefährdet den Gesamtauftrag nicht. Im Übrigen sind auch die Gerichte nie weg gewesen. (Jüngst wurden an vielen Orten einzelne Maßnahmen der Regierungen, die zu weit gingen, von den Gerichteten gekippt.) Das zeigt, dass der Rechtsstaat funktioniert, und auch für uns bestünde die Möglichkeit, Einschränkungen unserer parlamentarischen Rechte gerichtlich geltend zu machen, wie wir es schon in der Vergangenheit getan haben und jederzeit wieder tun würden. Diese Möglichkeit hat auch jede und jeder, der sich durch das Handeln seiner Regierung in seinen Rechten verletzt sieht. (Auch die bereits erwähnten Gerichtsentscheidungen gehen – wie immer in diesen Fällen – darauf zurück, dass Einzelpersonen bestimmte Maßnahmen dem Gericht zur Entscheidung vorgelegt haben.)
Es wäre jedoch ein Missverständnis zu glauben, das Grundgesetz verböte jede Einschränkung beispielsweise des Versammlungsrechts oder der Freizügigkeit. Tatsächlich ist es nämlich so, dass fast alle Grundrechte nach dem Grundgesetz nicht absolut gelten – sondern explizit unter dem Vorbehalt stehen, eingeschränkt zu werden. Anders geht es auch nicht, denn wie sonst könnte der Konflikt aufgelöst werden, der draus entsteht, dass die Ausübung der Freiheit des einen nicht selten die Freiheit eines anderen einschränken würde. Ebenso verhält es sich mit dem Recht auf Leben und Gesundheit, das massiv eingeschränkt wäre, wenn die Regierung keine Maßnahmen zu dessen Schutz ergriffen hätte, die mit Freiheitsbeschränkungen verbunden sind. Wo weder das eine noch das andere Recht einen Vorrang hat, muss wie hier abgewogen werden.
Unabhängig davon und stets gilt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Maßnahmen müssen daher einem legitimen Zweck dienen. Sie müssen auch geeignet sein, diesen Zweck zu erfüllen. Auch darf es kein weniger belastendes aber gleich wirksames Mittel geben und Mittel und Zweck müssen in einem angemessenen Verhältnis zueinanderstehen. Diese Prüfung muss erfolgen, bevor eine Maßnahme erlassen wird, und sie muss ständig wiederholt werden, damit die Maßnahme beendet wird, sobald eines dieser Kriterien nicht mehr vorliegt. Tut die Regierung dies nicht, kann ein Gericht die Prüfung übernehmen und eine Maßnahme beenden (so geschehen in Augsburg, Berlin, Düsseldorf, Niedersachsen und an vielen weiteren Orten).
Die Zukunftschancen der Kinder möchten wir als Grüne Bundestagsfraktion wie folgt sichern:
• Eltern und Kinder brauchen nach anstrengenden Wochen zwischen Homeoffice, Haushalt und Fernunterricht Entlastung und verlässliche Perspektiven. Den Öffnungen von Kitas und Schulen wollen wir deshalb höchste Priorität einräumen.
• Geschlossene Kitas und Schulen vergrößern die Bildungsungerechtigkeit. Es ist jetzt Zeit, die Bedürfnisse, Interessen und Zukunftschancen der jungen Generation ins Zentrum zukünftiger Entscheidungen rücken.
• Den Sommer wollen wir nutzen, damit alle Kinder und Jugendliche gut ins neue Kita- und Schuljahr starten können – mit zusätzlichem Personal, einem digitalen Update für die Schulen und klugen Konzepten für guten Unterricht und Betreuung.
Unter https://www.gruene-bundestag.de/themen/corona-krise/zukunftschancen-von-kindern-sichern finden Sie den gesamten Vorschlag zur Öffnung von Kitas und Schulen.
Der aktuelle Stand der Lockerungen zeigt, wie fragil die Lage ist. Sehr schnell kommen wieder Infektionscluster ans Licht. Wir müssen weiter mit Bedacht vorgehen.
Mit freundlichen Grüßen
Daniela Wagner