Amnesty International hat den westlichen Ländern Doppelmoral im Umgang mit Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Zurecht?

Sehr geehrte Frau J.,

vielen Dank für Ihre Frage.

Sie vergleichen die Reaktionen Deutschlands, der EU und des Westens auf den Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinenser*innen einerseits und den Angriff Russlands auf die Ukraine andererseits.

Ich finde, es gibt zwischen den beiden Konflikten große Unterschiede. Russland hatte die Unabhängigkeit der Ukraine anerkannt, der Ukraine sogar im Gegenzug für deren Abgabe alter sowjetischer Atomwaffen an Russland Sicherheitsgarantien gegeben. Trotzdem griff Russland die Ukraine an. Seitdem verteidigt sich die Ukraine, wobei das Ukrainische Militär sich in aller Regel bemüht, nur russische Soldaten zu treffen und Zivilist*innen so gut es geht zu schonen.

Der Konflikt zwischen der Hamas und Israel ist deutlich anders. Wenn ich es richtig verstehe, sehen Sie Parallelen zwischen dem Angreifer Russland, der ohne jede Grundlage Besitzansprüche auf Teile oder sogar die ganze Ukraine stellt, und Israel dessen Existenzrecht innerhalb seiner Grenzen durch seine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen international und inzwischen ja auch von mehreren seiner arabischen Nachbarstaaten anerkannt ist. Die Besatzung Israels im Westjordanland ist eine Folge der vergangenen erklärten Versuche der arabischen Nachbarstaaten Israel völlig zu vernichten.
Dagegen hatte Israel das Recht, sich zu verteidigen. Als Ausweg aus der Besatzung haben vergangene israelische Regierungen einen Friedensschluss und eine Zweistaaaten-Lösung mit der politischen Vertretung der Palästinenser*innen gesucht. Seit dem Zusammenbruch der Friedensverhandlungen gibt es aber große Schwierigkeiten eine wirksame Vertretung der Palästinenser*innen für neue Verhandlungen zu finden.

Ich stimme mit vielen israelischen Kritiker*innen der aktuellen israelischen Regierung überein, dass viele Politiken falsch sind, gerade auch die Siedlungspolitik im Westjordanland, die gegen internationales Recht verstößt. Ich habe viel Verständnis für Proteste der Palästinenser*innen gegen diese Politik. Aber das brutale Morden der Hamas am 7. Oktober und seitdem, zielt bewusst auf Zivilist*innen. Diese Verbrechen der Hamas dürfen nicht als legitimer Widerstand verharmlost werden. Und gerade der Gaza-Streifen, den die Hamas kontrolliert, war ja von Israel nicht mehr besetzt. Israel hatte illegale Siedlungen dort selbst, teils mit Gewalt gegen die Siedler, geräumt.

Ich maße mir nicht an, die Zahlen der Opfer im aktuellen Konflikt genauer kommentieren zu wollen. Aber während es dokumentierte Versuche des israelischen Militärs gibt, Zivilisten rechtzeitig vor Angriffen zu warnen, gibt es immer mehr Hinweise, dass die Hamas sich gerade an den verwundbarsten zivilen Orten wie Krankenhäusern versteckt, dort die über 200 Geiseln festhält. Der Schutz von Zivilisten und deren Versorgung mit lebenswichtigen Gütern muss einen sehr hohen Stellenwert haben. Ich bin unserer Außenministerin sehr dankbar, dass sie das immer wieder auch von der israelischen Regierung einfordert.

Weil ich hier unmöglich zu diesem sehr komplexen Thema vollständig Stellung nehmen kann, empfehle ich darüber hinaus die Einordnung von Vizekanzler Robert Habeck:

https://www.youtube.com/watch?v=ZBtAtsdco-8

Außerdem empfehle ich Sie an den sehr erfahrenen Kollegen Reinhard Bütikofer, der zum Nahostkonflikt und zur aktuellen Eskalation einen klugen Text geschrieben hat: https://reinhardbuetikofer.eu/2023/11/11/israel-und-gaza-vier-wochen-krieg-buetis-woche-267/

Mit freundlichem Gruß,

Daniel Freund