20 Jahre Einsatz der Bundeswehr in Afghanistan. War die Mission in ihren Augen ein Erfolg?
Sehr geehrte Frau Schmidt,
Spiegel-Online schreibt am 15.08.2021: "Die afghanische Armee hat sich kampflos den Taliban ergeben – nachdem der Westen die Einheiten zwanzig Jahre lang ausbildete und mit Milliarden unterstützte. Warum kapitulierten die Truppen?"
Quelle: https://www.spiegel.de/ausland/afghanistan-wie-die-afghanische-armee-so-schnell-kollabieren-konnte-a-27da83ce-fb3c-43c2-be1b-805bf38ccbb2
Ich frage Sie, weil Sie mehrfach FÜR eine Verlängerung des Einsatzes in Afghanistan bzw. FÜR eine Fortführung der Ausbildung der Afghanischen Armee gestimmt haben. z. B. am: 25.03.2021; 13.03 2020; 21.03.2019; 22.03.2018; 12.12.2017
Schon komisch, während ich kritische Fragen stelle installiert mein Sohn ein Wahlplakat der SPD mit ihrem Konterfei auf seinem Grundstück. Er macht dass, weil die, die am Berg wohnen, früher hat man "hausen" gesagt, sehr nette Menschen sind. ;-)
Mit freundlichen Grüßen
Reiner Renner
Sehr geehrter Herr Renner,
haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht zu Afghanistan und dem Einsatz, in dem sich die Bundeswehr 20 Jahre lang befand. Und an Ihren Sohn meinen Dank für die Plakate! Ich sehe aber keinen Widerspruch darin, mich zu unterstützen und trotzdem kritische Fragen zu stellen.
Die Lage in Afghanistan ist äußerst dramatisch. Die Berichte und Bilder, die uns von dort erreichen, sind nach wie vor bestürzend. Die Taliban haben in kürzester Zeit das Land und die Hauptstadt Kabul unter ihre Kontrolle gebracht. Die afghanischen Sicherheitskräfte haben dem wenig entgegengesetzt; der Staatspräsident ist aus dem Land geflohen. Mich hinterlässt das schockiert. Besonders, weil wir in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder wichtige Schritte in Richtung Stabilität gegangen sind – gemeinsam mit den Afghanen!
Dazu zählt nicht nur, dass die Afghanischen Sicherheitskräfte über viele Jahre des Trainings und der Ausbildung weite Teile des Landes sichern und verteidigen konnten, sondern dass durch die Stabilität, die im Land erreicht wurde, besonders wirtschaftliches und kulturelles Leben wieder möglich wurde. Schulen konnten Jungen und Mädchen Bildung vermitteln, ihnen Lesen und Schreiben beibringen; die Alphabetisierungsrate ist seit Beginn des Afghanistan-Einsatzes immer weiter gestiegen (z.B. konnten 2011 von allen Menschen über 15 31,4 Prozent lesen und schreiben. Im Jahr 2018 konnten bereits 43 Prozent lesen und schreiben), wovon besonders Mädchen und Frauen profitierten. Auch in der Gesundheitsversorgung haben wir Erfolge erlebt, als die Säuglings-, Mütter- und Kindersterblichkeit deutlich niedriger war als in den Jahren vor dem Einsatz in Afghanistan.
Auch wenn dies über 20 Jahre lang in kleinen Schritten erreicht wurde, war es dennoch ein kontinuierlicher Prozess, den ich gerade auch deshalb seit meinem Einzug in den Bundestag 2013 immer wieder mit der Verlängerung des Mandates der Bundeswehr unterstützt habe. Das geschah jedoch auch aus den Bündniszusagen, die wir der internationalen Gemeinschaft gegenüber gemacht haben. Für neues Bundeswehrmandat – gleich wo im Ausland – würde ich jedoch andere Maßstäbe meiner Entscheidung zugrunde legen.
Aber der Ernst der Lage gebietet uns nun, den Blick auf die verbliebenen Deutschen und Ortskräfte in Afghanistan zu werfen. Wir dürfen jetzt keine Zeit verlieren: Außenminister Heiko Maas hat deutlich gemacht, dass die Bundesregierung alles unternimmt, die noch in Afghanistan befindlichen deutschen Staatsangehörigen und die afghanischen Ortskräfte sowie deren Familien so schnell wie möglich zu evakuieren. Nachdem über 5.200 Menschen über die sogenannte Luftbrücke von Kabul nach Taschkent ausgeflogen wurden, arbeitet Heiko Maas nun daran, dass eine sichere Passage in die Nachbarstaaten Afghanistans aufgebaut werden kann, damit die Betroffenen in den dortigen deutschen Vertretungen ihre Ausreise organisieren können.
Wir haben eine große Verantwortung denen gegenüber, deren Tätigkeit für deutsche Einrichtungen jetzt eine besondere Gefahr für ihr Leib und Leben darstellt. Heiko Maas hat sich in den letzten Monaten unablässig für eine schnelle und unbürokratische Ausreise der Ortskräfte eingesetzt. Bereits rund 2.000 ehemalige Helfer und ihre Familien sind ausgereist, 400 weitere haben Visa erhalten bevor die Taliban Kabul erreichten.
Zusätzlich sollen weiteren Afghaninnen und Afghanen die Ausreise ermöglicht werden, die für deutsche Entwicklungseinrichtungen, NGOs, Medien oder Stiftungen gearbeitet haben. Auch Menschen- und Frauenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger, Journalisten und Kulturschaffende gehören dazu. Seit klar war, dass sich auch Deutschland aus Afghanistan zurückziehen wird, haben wir beim zuständigen Bundesinnenministerium (BMI) darauf gedrängt, dass es praktische Lösungen für die Aufnahme für unsere Ortskräfte geben muss. Auf Druck der SPD kam es immerhin im Juni zur erheblichen Erweiterung und Beschleunigung der Verfahren zur Aufnahme von Ortskräften, indem beispielsweise die Zweijahresfrist aufgehoben und der Zeitraum für Anträge rückwirkend um Jahre erweitert wurde.
Doch erst sehr spät wurden von Horst Seehofers Bundesinnenministerium die Voraussetzungen für die Durchführung von Charterflügen geschaffen. Über sieben Monate blockierte es eine praktikable Lösung für eine Ausreise per Charterflug, bei der benötigte Visa direkt bei der Ankunft in Deutschland erteilt werden können. Durch die Blockade des Innenministeriums ist leider viel zu viel Zeit vergangen. Auch die Innenministerkonferenz bat im Juni um eine Prüfung dieses Vorgehens. Darüber hinaus lag keine verlässliche Namensliste der Ortskräfte aus dem Bereich des Bundesentwicklungsministeriums (BMZ) vor, auch jetzt sind die Listen nicht abschließend. Hier geht es u. a. um Mitarbeiter der GIZ oder der KfW in Afghanistan. Damit ist unklar, wer in diesem Bereich aktuell arbeitet und zum Kreis der Berechtigten gehört, wenn die Ortskräfte evakuiert werden sollen.
Viele Afghaninnen und Afghanen haben vor den Taliban die Flucht ergriffen. Familien mit Kindern suchen Schutz in den Nachbarländern. Jetzt muss es darum gehen, einer humanitären Notlage frühzeitig zu begegnen. Deutschland, Europa und die internationale Staatengemeinschaft müssen die Anrainerstaaten bei der Aufnahme und Versorgung afghanischer Flüchtlinge zügig unterstützen.
Die Taliban haben angekündigt, eine zivile Übergangregierung einzurichten und mit der internationalen Staatengemeinschaft den Austausch zu suchen. Wenn dies stimmt, müssen wir zusammen mit unseren internationalen Partnern und den Vereinten Nationen zügig Verbindung zu einer solchen Regierung aufbauen. Jede Chance, einen erneuten Bürgerkrieg in Afghanistan zu verhindern und das Erreichte zu wahren, muss genutzt werden.
Doch heute ist es zu früh, um eine abschließende Beurteilung des Afghanistan-Einsatzes vorzunehmen – auch wenn uns die Bilder, die wir im Minutentakt zu sehen bekommen, etwas anderes suggerieren. Bei der Komplexität und langen Geschichte des Engagements geht es darum, die Geschehnisse und die Ereignisse angemessen aufzuarbeiten. Wir haben als Fraktion in einem im Juni verabschiedeten Positionspapier deswegen eine Gesamtevaluierung des zivilen, polizeilichen und militärischen Engagements in Afghanistan gefordert. Um unser Handeln zu bewerten und Lehren für die Zukunft zu ziehen, fordern wir dafür die Einsetzung einer Enquête-Kommission des Deutschen Bundestages in der kommenden Legislaturperiode.
Sollten Sie Fragen haben oder weitere Informationen benötigen, können Sie sich jederzeit auch gerne direkt an mein Büro unter dagmar.schmidt@bundestag.de wenden.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre
Dagmar Schmidt, MdB