Frage an Dagmar Enkelmann von Christian R. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Enkelmann,
ich habe ein besonderes Anliegen, mir liegt sehr viel an dieser Arbeit.. ich bin gerade dabei einen Vortrag über Demokratie zu schreiben, dort möchte ich auch gerne Meinungen und Ansichten von verschiedenen Personen einholen und Sie darin einbinden, Sie sind einer der glücklichen ;-)
Was ist und bedeutet Demokratie für Sie?
Ist Deutschland ein wahre Demokratie?
Und warum sind immer mehr Menschen, vor allem im Osten Demokratiemüde, wenn man doch Geschichtlich gesehn, so lange in Deutschland darum kämpfen musste?
Im Vorraus 1000Dank!!!!!
Mit besten Wünschen..
Christian Reihs
Sehr geehrter Herr Reihs,
ich freue mich, dass Sie gerade von mir Ansichten zur heutigen Demokratie einholen wollen.
Die Demokratie, die ja nichts anderes als Volksherrschaft heißt, bedeutet mir sehr viel. Die demokratischen Rechte, wie sie im Grundgesetz festgeschrieben sind - so das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, auf Leben und körperliche Unversehrtheit und auf Gleichheit vor dem Gesetz, die Gleichberechtigung von Mann und Frau, das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit, auf Meinungs-, Informations-, Presse- und Versammlungsfreiheit -, stehen für mich auf derselben Stufe wie soziale Grundrechte, darunter das Recht auf Wohnen, auf soziale Sicherheit, auf Arbeit sowie das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben.
Diese Rechte sind unteilbar und gehören zusammen. Diese Haltung ist auch den Erfahrungen aus DDR-Zeiten geschuldet, als man zwar versuchte, viele soziale Rechte ernsthaft zu verwirklichen, aber demokratische Rechte wie Informations-, Meinungs- und Pressefreiheit geringer schätzte, vom Recht auf Freizügigkeit ganz zu schweigen.
Die politische Wende 1989/90 wurde denn auch von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern als Gewinn an demokratischen Rechten betrachtet. Das ist auch heute so. Was oft, wie Sie in Ihrer Frage formulieren, als "Demokratiemüdigkeit" im Osten beschrieben wird, ist für mich in erster Linie eine Politiker- und Parteienverdrossenheit, die es nicht nur im Osten, sondern auch im Westen gibt. Mehrere Umfragen haben z.B. ergeben, dass ungefähr die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik unzufrieden damit ist, wie die Demokratie in Deutschland funktioniert, aber 80 Prozent das Grundgesetz für gut halten.
Ich denke, wir sollten vor allem über diese Diskrepanz zwischen den geschriebenen Verfassungsrechten und der Verfassungsrealität nachdenken. So ist es schon merkwürdig, dass eine deutliche Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger gegen den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr ist - die Große Koalition aber immer mehr Soldaten an den Hindukusch schickt. Und es ist kein Ausweis einer funktionierenden Demokratie, dass die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger seit Jahren für einen bundesweiten gesetzlichen Mindestlohn ist, entsprechende Initiativen der LINKEN im Bundestag aber keine Mehrheit finden.
Ob die bürgerliche Demokratie tatsächlich das Nonplusultra, eine - wie Sie schreiben - "wahre Demokratie" ist oder ob die Vision eines demokratischen Sozialismus einmal Realität werden könnte, das ist eine Frage, die wohl erst in der Zukunft beantwortet wird.
Für mich geht es in erster Linie darum, sich jetzt zeigende demokratische Defizite abzubauen. Dafür gibt es mehrere Wege. Auf der Bundesebene z.B. ist es an der Zeit, endlich mehr Elemente direkter Demokratie zu schaffen, darunter Volksentscheide und Volksbegehren. Meine Fraktion DIE LINKE im Bundestag hat dazu einen Gesetzentwurf zu einer dreistufigen Volksgesetzgebung vorgelegt (Drs. 16/1411) sowie den Entwurf eines Gesetzes zum Schutze der Pressefreiheit (Drs. 16/4539).
Demokratie findet aber nicht nur im Bundestag oder in den Länderparlamenten statt - sie muss auch in jeder Stadt, in jeder Landkreis und jeder Gemeinde gepflegt werden. In meiner Heimatstadt Bernau bei Berlin bin ich als Stadtverordnete tätig und wurde dort im Herbst 2008 wiedergewählt. Die Stadtfraktion der LINKEN dort führt regelmäßig öffentliche Sitzungen durch, zu denen jede Einwohnerin und jeder Einwohner kommen kann.
Oder nehmen wir die neue Kommunalverfassung des Landes Brandenburg: Sie sieht vor, dass Bürgerinnen und Bürger bei wichtigen Entscheidungen zu beteiligen sind. Wie das ausgestaltet wird, liegt in der Kompetenz der jeweiligen Kommunalvertretung, in unserem Fall also der Stadt Bernau. Um z.B. Einwohnerversammlungen einberufen zu können, hat die Stadtverwaltung Bernau nunmehr ein Quorum von 5 Prozent der betroffenen Einwohner vorgeschlagen. Meine Fraktion will, dass auch auf Verlangen von mindestens zwei Fraktionen der Stadtverordnetenversammlung Einwohnerversammlungen anzuberaumen sind. DIE LINKE verlangt auch, dass vor der Entscheidung über eine Baumaßnahme in einer Siedlungsstraße die Anlieger zu informieren und zu hören sind (auch über mögliche Anliegerbeiträge), dass die Stadtverordneten über die Ergebnisse der Versammlungen unterrichtet werden müssen und dass der zuständige Bauträger im Verlauf der Baumaßnahme regelmäßig Baurapporte anzubieten hat, um schnell Probleme klären zu können. Auch hier entscheidet letztlich - wie im Bundestag - die Mehrheit in der Stadtverordnetenversammlung darüber, ob es in Bernau zu einem Mehr an Demokratie kommt.
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Dagmar Enkelmann