Frage an Dagmar Enkelmann von Rico H. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Enkelmann,
zunächst einmal möchte ich Sie für Ihren Beitrag in der letzten Anne-Will-Sendung beglückwünschen und mich bedanken. Sie waren die m.E.n. die erste Politikerin, die in einer TV-Sendung die Statistikfälschung der Arbeitsagentur ansprach. Weiter so.
Warum aber wird das von Linken-Politikern sonst nicht gemacht?
Ausserdem möchte ich Sie fragen, warum alle Politiker so erpicht darauf sind, Arbeitsplätze zu schaffen? Der evulutionäre Weg der Wirtschaft war und ist immer der, der Rationalisierung- also der Arbeitsvermeidung. Daraus folgt meiner Meinung nach logischer Weise immer größere Arbeitslosigkeit. Der Sinn eines Unternehmens kann doch auch nicht sein Arbeitsplätze zu schaffen, sondern ein Produkt XY zu produzieren, und das mit möglichst wenig Aufwand.?
Wenn ein Mensch seine Miete nicht mehr bezahlen kann, liegt das doch nicht daran, daß er keine Arbeit hat, sondern daran, daß er kein Geld hat, oder? Also, was nützt ihm ein Job, von dem er nicht Leben kann? Menschenwürde??? Davon kann sich niemand Brot kaufen. Wenn ich also sehe wie das BIP der Bundesrepublik - trotz Wiedervereinigung - stetig gestiegen, also der Reichtum immer größer wurde, bei gleichbleibender Bevölkerungszahl, wäre es da nicht angebrachter über die Verteilung von Geld statt von Arbeit zu sprechen? In der Linken gibt es dazu Überlegungen zu einem Bedingungslosem Grundeinkommen. Wie stehen Sie zu dieser Thematik???
Mit allerbesten Wünschen
Rico Haaske
Sehr geehrter Herr Haaske,
die Lorbeeren, die erste Politikerin gewesen zu sein, die in einer TV-Sendung auf die Zweifelhaftigkeit der offiziellen Arbeitslosenstatistik hingewiesen hat, gebühren mir leider nicht. Das haben andere Politiker auch der LINKEN und kompetente Journalisten bereits vor mir mehrfach getan. Nur hat nicht jeder Gelegenheit, dies in einer Sendung mit Millionen von Zuschauern kundzutun.
Ich denke, dass es dringend notwendig ist, überhaupt den Begriff von Arbeit neu zu definieren. Die Menge der vorhandenen Arbeit hängt für mich nicht allein von Unternehmen ab, die irgendwelche Produkte XY herstellen. Das ist mir zu einfach. Arbeit wird überall geleistet: in Unternehmen, im öffentlichen Dienst, in der Nachbarschaft, unter Freunden und in der Familie - überall dort, wo Menschen Werte schaffen.
Da haben wir zum einen das Phänomen, dass jede Menge Arbeit ungetan bleibt, dass es beispielsweise viel zu wenig Beschäftigte in den Bereichen soziale Dienste, Bildung, Forschung, Wissenschaft, Kultur etc. gibt. Hier gibt es nicht zu wenig Arbeit, sondern vor allem einen Mangel an bezahlter Arbeit und ich bin dafür, erst einmal dafür zu sorgen, dass diese gesellschaftlich dringend zu erledigende Arbeit auch getan wird, z.B. mit Hilfe eines öffentlich finanzierten Beschäftigungssektors, der "gute Arbeit" und nicht Ein-Euro-Jobs bietet.
Zum anderen gibt es jede Menge Arbeit, die bereits getan wird, aber unbezahlt bleibt, beispielsweise die Arbeit von Frauen oder Männern, die sich in erster Linie um Haushalt und Familie kümmern, oder die ihre Angehörigen pflegen oder die ehrenamtlich im Verein oder im Jugendklub oder in selbst organisierten Projekten tätig sind. Ich bin dafür zu prüfen, ob nicht auch diese Tätigkeiten gesellschaftlich finanziell anerkannt werden sollen.
Es ist richtig: Ein Job, von dem man nicht leben und seine Miete nicht bezahlen kann, ist eines Menschen unwürdig. Es wäre aber falsch, die Politik der rot-grünen Koalition unter Schröder und der Großen Koalition unter Merkel, die auf die Förderung prekärer Beschäftigung, von Billig- und Minijobs setzte bzw. setzt, in eine generelle Krise der Arbeitsgesellschaft umzuinterpretieren. Es gilt vielmehr, alle Arbeit in der Gesellschaft so zu organisieren und vor allem zu finanzieren, dass sie auf eine menschenwürdige Art und Weise getan werden kann und auch so anerkannt wird.
Dazu gehören natürlich auch eine deutliche Arbeitszeitverkürzung mit Lohnausgleich für die unteren Einkommensgruppen sowie eine Umverteilung von Arbeit, damit künftig nicht mehr die einen malochen und die anderen Däumchen drehen müssen. Und wie Sie richtig bemerken, steigt das Bruttoinlandsprodukt, die Summe aller geschaffenen neuen Werte, in der Bundesrepublik stetig an. Dieses Land ist reich genug, um allen menschenwürdiges Arbeiten zu ermöglichen.
Was das bedingungslose Grundeinkommen anbetrifft, wird diese Frage gegenwärtig heftig in unserer Partei DIE LINKE diskutiert. Auch wenn es sich um eine Vision handelt, neige ich dazu, hier ernsthaft abzuwägen. Dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes widerspricht nämlich, dass Menschen entwürdigende Prozeduren auf sich nehmen müssen, um im Falle von Arbeitslosigkeit, nicht existenzsichernden Einkommen oder Renten staatliche Unterstützung bekommen zu können. Die Argumentation des dm-Chefs Götz Werner überzeugt mich schon.
Mit freundlichen grüßen
Dr. Dagmar Enkelmann