Frage an Claudius Lieven von Stephan W. bezüglich Raumordnung, Bau- und Wohnungswesen
Hallo Herr Lieven!
Plazza Bestiale (Schulterblattplatz), Messeerweiterung, Umgestaltung rund um die Gnadenkirche zum 2.ten Kaffeeplatz, Hotel im Schanzenpark (Wegfall des Freiluftkinos, laufende Polizeikontrollen im Schanzenpark), Bau des Musikgründerzentrums auf einer der wenigen Freiflächen usw.
So langsam bekomme ich arge Bedenken und Angst, ob ärmere Bürger sich diese Viertel noch leisten können?
Ich hab nichts gegen ein erträgliches Maß an Kommerz und Kapital. Was aber hier passiert, ist mir viel zu Mövenpick, Tourismus und Messeausweitung. Viele von uns Kiezbewohnern können sich den ganzen Kaffee (ups... ich hab ja auch in Lokal) und die vielen T-shirts in unseren Vierteln gar nicht leisten. Ich finde, es entsteht so langsam ein Einheitsbrei und die Nischen so wie das Abwechslungsreiche fallen weg. Zum Glück gibt es noch die Rote Flora. Da ist auch die Handelskammer froh drum.
Wie stehen Sie zu meinen Bedenken?
Mit freundlichem Gruß, Stephan Watrin!
Hallo Herr Watrin,
oder Stefan wenns recht ist, wir waren schon mal beim Du.
Die von dir gennnanten Projekte bewerte ich für sich genommen überwiegend poitiv, im Zusammenhang gesehen ergibt daraus aber tatsächlich eine deutliche Veränderung und auch Aufwertung des Schanzen und Karolinenviertels. Aber zunächst der Reihe nach:
>Plazza Bestiale (Schulterblattplatz)
Der Umbau des Schulterblatts ist m.E. im ganzen gesehen recht gut gelungen. Klar, die "offene Koffeinszene" auf dem Platz ist zwar größer geworden und es kommen mehr Touristen ins Viertel, der Absturz der Schanzenstraße zur 99Cent Laden Meile war jedoch auch keine gute Alternative. Ich habe im übrigen den Eindruck, dass der überwiegende Teil der Schanzenbewohner das Schulterblatt und den Platz gerne mag.
>Messeerweiterung:
Ein Langes Thema. Ausgangspunkt ist wieder ein "was wäre wenn", wenn nämlich die Messe weggegangen wäre und ein Investor seinen Vorschlag durchbekommen hätte der Stadt am Rand eine neue Messe zu bauen und dafür das Gelände in Zahlung zu nehmen um es mit einem großen Bürocenter zu bebauen. Das hätte mutmaßlich größere Veränderungs- und Aufwertungswirkungen für die angrenzenden Viertel gehabt als die laufende Messeerweiterung, die, wie ich umstandslos zugebe, gerade zur Zeit eine erhebliche Belastung für die Anwohner darstellt. Immerhin hat die Messe nur rund 100 Tage im Jahr geöffnet, ein Bürocenter mit Läden, Appartments, Kino etc wäre das ganze Jahr in Betrieb gewesen. Keine angenehme Abwägung, in der Tat. Wir haben uns dafür entschieden, zu versuchen die Messeerweiterung so verträglich wie möglich für die angrenzenden Viertel zu machen und dabei auch etwas Positives herauszuholen, wie z.B. die-->
> Umgestaltung rund um die Gnadenkirche zum 2.ten Kaffeeplatz:
Dies ich begrüße, wegen Lärm, Verkehr etc, durch die die Anwohner gegenwärtig extrem belastet sind. Möglich dass dann mehr Messegäste als jetzt dort vorbeikommen und es mehr Cafés geben wird, dennoch ist ein städtischer Platz mit Möglichkeiten zum sitzen, spielen und Kaffetrinken besser als eine 5 spurige Straße mit ~30.000 KfZ pro Tag.
>Hotel im Schanzenpark (Wegfall des Freiluftkinos, laufende Polizeikontrollen im Schanzenpark):
An dem Kinothema arbeiten wir. Ziel ist, dass das Kino auch nach 2006 für bis zu 6 Wochen im Jahr im Park stattfinden kann. 2005 und 2006 werden aller Voraussicht genehmigt werden können. Der Bezirk Eimsbüttel wird dazu erforderlichenfalls eine eigene Untersuchung zur Störschallminimierung in Auftrag geben. Ich halte es für aussichtsreich, dass eine Lösung gefunden werden kann, auch da das Hotel mit 3Scheiben Schallschutzverglasung und Klimatisierung ausgestattet sein wird, so dass diese Fenster dicht sind. Deswegen glaube ich, dass man zu einer Lösung für das Kino kommen wird. Die gegenwärtige Polizeipräsenz, die Kontrollen und Platzverwiese im Park sind sehr ärgerlich. Es kann nicht angehen, dass die Polizei Parkbesucher schikaniert, was vorgekommen ist. Der Park muss in vollem Unfang für die Öffentlichkeit nutzbar bleiben und alles Nutzungen die dort durchführbar waren müssen durchführbar bleiben. Dafür haben wir uns in der Vergangenheit eingesetzt und werden es auch in Zukunft auf allen Ebenen tun. Ich bereite z.Z. eine Anfrage an den Senat vor, die sich mit dem Umfang und der Fortschreibung der Nutzungsmöglichkeiten im städtebaulichen Vertrag befasst sowie mit der Frage der Sicherung der Festsetzungen des städtebaulichen Vertrags im Falle eines Weiterverkaufs des Hotels.
>Bau des Musikgründerzentrums auf einer der wenigen Freiflächen usw.
Wir waren dagegen, das Zentrum auf der Wiese zu bauen und haben vorgeschlagen das Projekt in die alten Quarantäneställe an der Vorwerkstraße zu legen. Der Standort auf der Wiese ist von uns abgelehnt worden. Ich hoffe dennoch, dass das Zentrum sein Ziel - günstige Arbeitsflächen für Musiker, Labels und Produzenten zu schaffen - erreicht, denn ich halte nicht die Idee für schlecht sondern primär den Ort.
> So langsam bekomme ich arge Bedenken und Angst, ob ärmere Bürger sich diese Viertel noch leisten können?
> Ich hab nichts gegen ein erträgliches Maß an Kommerz und Kapital. Was aber hier passiert, ist mir viel zu Mövenpick, Tourismus und Messeausweitung. Viele von uns
> Kiezbewohnern können sich den ganzen Kaffee (ups... ich hab ja auch in Lokal) und die vielen T-shirts in unseren Vierteln gar nicht leisten. Ich finde, es entsteht so langsam ein
> Einheitsbrei und die Nischen so wie das Abwechslungsreiche fallen weg. Zum Glück gibt es noch die Rote Flora. Da ist auch die Handelskammer froh drum.
Deine Beobachtung trifft zu. Die Viertel verändern sich - nicht erst seit gestern und bestimmt auch morgen noch. Die "Kreativen" machen den Anfang und wenn die Schmuddelkinder (AKA Bambule) erfolgreich abgeräumt worden sind findet irgendwann sogar das Abendblatt das Viertel trendy. Die Mieten steigen (auch zahlungskräftige WG´s tragen dazu bei) Neubauten werden vorzugsweise freifinanziert errichtet und teuer vermietet. In den früher 80iger war das Karoviertel noch das Schlachthofviertel mit 5 Schlachtereien in der Markstraße, Tante Emma Läden, Eisenkrämern usw. An ihrer Stelle befinden sich heute Modeläden oder Galerielokale.
Noch greifen die Mietpreis- und Belegungsbindungen für die sanierten Wohnungen im Karolinenviertel. Deren Laufzeit von i.d.R. 18 Jahren ist jedoch bei nicht wenigen Häusern schon mehr als halb rum. Und wie die Stadt danach mit dem Treuhandvermögend er STEG umgeht ist nicht ausgemacht. Wenn der Finanzsenator weiter den Verkauf des Immobilienvermögens zum Zwecke der Haushaltsaanierung betreibt kann es sein, dass die Stadt nach auslaufen des Sanierungsgebietes (nach 2010) viele Häuser auf den Markt bringt. Dann würde sich das Viertel richtig verändern.
Wir haben uns schon vor Jahren dafür ausgesprochen, nach Auslaufen der Sanierung im Karoviertel und Schnazenviertel (wo das Sanierungsgebiet bald ausläuft) Soziale Erhaltungsverordnungen erlassen werden. Dieses Instrument hat der Senat aber 2003 praktisch abgeschafft. Der kritische Moment kommt, wenn das Sanierungsgebiet ausläuft und in etwa parallel beginnend, die Belegungs und Mietpreisbindungen. Gegenwärtig schützen insofern die Sanierungssatzung und das Treuhandvermögen das Karolinenviertel vor einer massiven Umstrukturierung. Gleichwohl sind die Effekte der seit 1989 laufenden Sanierungsmaßnahmen deutlich sichtbar. In den 80igern hing im Winter im Karoviertel der Geruch der Ofenheizungen in der Luft, das ist vorbei, weil großteils neue Heizungen installiert wurden. Wir setzen uns für den Erhalt der alten Bausubstanz ein wo immer es geht. Aktuell mit einem Antrag zur Unter-Schutz-Stellung der Turnerstraße 8-10, die die SAGA gerne abreißen möchte. Saniert wird nun auch die Karolinenstraße 27, die schon dem Abriss geweiht schien.
Mit fortschreitender Sanierung (Immobilienwirtschaftlich "in Wert Setzung") werden die kreativen Nischen weniger - meistens. Es ist kürzlich gelungen die SAGA davon abzuhalten die Mieten im Künstlerhaus Karolinenstraße 2 drastisch hochzusetzen. Mit dem momentanen Ladenmieten in der Markstraße können Läden wie Hinterconti noch klarkommen, das liegt auch daran dass die STEG eine vergleichsweise moderate Mietenpolitik macht und nicht aufs Maximum geht. Mit dem Musik-Existenzgründer Zentrum versucht man in gewisser Weise sogar solche Nischen zu institutionalisieren - das ist fast ein Selbstwiderspruch, aber dennoch. Dort sollen mit EU Mitteln Low-Budget Werkstätten für die Musikproduktion geschaffen werden, das hat nicht den Charme eines alten Fabrikgebäudes aber zusammen mit dem Club im Schlachthof könnte etwas Interessantes dabei herauskommen.
Um eine Einschätzung für den Zustand des Karolinen und Schanzenviertels in 10 Jahren zu bekommen, würde ich nach Ottensen schauen. Dort wo in den 80igern noch große Brachen (Zeise Fabrik, Menk&Hambrock), waren stehen heute Wohnungen, ein Kino und Filmfirmen und Restaurants. Dennoch ist Ottensen sehr lebenswert geblieben. Natürlich kann man das nicht 1 zu 1 auf das Schanzen und Karolinenviertel übertragen, ich bin aber dennoch zuversichtlich, dass die Viertel auch in Zukunft bunt, vielfältig und lebenswert sein werden.
Viele Grüße
Claudius Lieven MdHB