Frage an Christine Lambrecht von Andreas F. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrte Frau Lamprecht,
um es vorweg zu nehmen: seit 30 Jahren habe ich mich politisch für die SPD engagiert und war stets Wähler Ihrer Partei.
Die Geschehnisse nach der aktuellen Landtagswahl, auch das
prädemokratrische Verhalten von hessischen SPD-Funktionären gegenüber der MdL Metzger werden dazu führen, dass ich dies, zumindest bei künftigen Landtagswahlen ändern werde.
Aufgrund meiner politischen Biographie interessiert mich trotzdem Ihre Meinung zu folgendem Sachverhalt:
Seit Wochen kann der politisch Interessierte auf der offiziellen Web-Seite des SPD Unterbezirkes Hessen Süd an erster Stelle eine unkommentiert gebliebene Erklärung der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen ( AfA ) nachlesen, die hochgradig verwundert.
In relativ schlechtem Deutsch wird dem erstaunten Leser erklärt,
die Politik Roland Kochs sei ebenso gescheitert, wie "die neo-
liberale Politik von Rot-Grün".
Auch wird wörtlich von einem neoliberalen Kurs gesprochen, den
"Schröder, Clement und Konsorten (!)" ... begonnen hätten.
Sehr geehrte Frau Lamprecht, die Zitate stammen nicht aus
dem "Neuen Deutschland" oder vom Parteitag der "Linken",
sie stammen aus der offiziellen Web-Seite der SPD Hessen!
Wie stehen Sie inhaltlich zu dem Vorgang ?
Mit freundlichen Grüßen
Dr. Andreas Forster
Sehr geehrter Herr Dr. Forster,
ich danke Ihnen für Ihre Frage, die es mir möglich macht, einmal ein paar Dinge zurecht zu rücken, die in den letzten Wochen offensichtlich durcheinandergekommen sind. Gerade Ihre Ausführungen machen deutlich, mit welchen merkwürdigen Maßstäben verschiedene Vorgänge gemessen werden.
Sie empören sich darüber, dass auf der Internetseite der SPD-Hessen-Süd "unkommentiert" eine Erklärung einer Arbeitsgemeinschaft der SPD steht, in der diese sich kritisch mit der Regierung Schröder auseinandersetzt. Gleichzeitig bezeichnen sie -- so verstehe ich Sie jedenfalls -- die Kritik an der Abgeordneten Metzger wegen ihrer Weigerung, Andrea Ypsilanti bei einer eventuellen Wahl zur Ministerpräsidentin ihre Stimme zu geben, wenn aus ihrer Sicht die falschen mitstimmen, als "prädemokratisch".
Um es deutlich zu sagen: Meine Einschätzung der Gesamtleistung der Regierung Schröder unterscheidet sich -- bei aller Kritik -- von der in der Erklärung der AfA geäußerten. Es ist auch nicht meine Sprachwahl. Aber soll man ernsthaft eine Erklärung einer Arbeitsgemeinschaft der SPD zensieren und gleichzeitig eine für die SPD gewählte Abgeordnete, die sich weigert ihre Spitzenkandidatin und Fraktionsvorsitzende zur Ministerpräsidentin zu wählen, zur Heldin verklären? Was ist das für ein Demokratieverständnis?
Ich habe als Abgeordnete im Deutschen Bundestag erfahren können, wie sich viele führende Sozialdemokraten auf Bundesebene, die sich schützend vor Frau Metzger gestellt haben, in der Bundestagsfraktion verhalten, wenn es um die Entscheidungsfreiheit der Abgeordneten geht. 2001 hat Bundeskanzler Gerhard Schröder die Entscheidung für den Krieg in Afghanistan mit der Vertrauensfrage verknüpft. Die SPD-Abgeordneten waren also gezwungen, eine wirkliche Gewissensentscheidung -- nämlich die über Krieg und Frieden -- mit der Frage zu verknüpfen, ob eine sozialdemokratische Regierung das Land weiter gestalten kann, oder nicht. Eine Abgeordnete wollte das nicht mittragen. Sie hat ihr die Fraktion verlassen.
Sie selber verweisen darauf, dass sie sich seit 30 Jahren für die SPD engagiert haben. Es gehört wenig Phantasie dazu, sich vorzustellen, wie lange ein Abgeordneter unter einem Fraktionsvorsitzenden Herbert Wehner sein Mandat behalten hätte, wenn er nach der Wahl in den Skiurlaub gefahren wäre um danach wiederzukommen, eine Pressekonferenz zu veranstalten und zu erklären, dass die Entscheidung der Fraktion, bei der man nicht anwesend war, falsch sei und man nicht bereit sei, den Spitzenkandidaten zum Regierungschef zu wählen.
Können Sie sich vorstellen, wie ein Parteivorstand mit Willy Brandt und Helmut Schmidt reagiert hätte, wenn ein prominenter Sozialdemokrat über die Medien dazu aufgefordert hätte, bei einer Landtagswahl die SPD und ihren Spitzenkandidaten nicht zu wählen?
Und heute soll man so ein Verhalten nicht mehr kritisieren dürfen, sondern auch noch loben? Für mich ist es "prädemokratisch", wenn einzelne Mitglieder -- aus welchen Motiven auch immer - die lange und harte Arbeit der ganzen hessischen SPD, für die tausende von Menschen monatelang gekämpft haben, kaputtzumachen versuchen. Leiden tun darunter die Menschen in Hessen: die Schüler und Eltern unter den desolaten Bedingungen an den Schulen; die, die nicht studieren können, weil sie nicht wissen, wie sie die Studiengebühren aufbringen sollen oder die Menschen, die Opfer von Kriminalität werden, weil die nächste Polizeistation erst in der nächsten Stadt ist, um nur einige zu nennen.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen klar machen, wie ich inhaltlich zu den Vorgängen stehe.
Mit freundlichen Grüßen
Christine Lambrecht, MdB