Sehr geehrter Herr Pape, besteht bei Ihnen auch die Gefahr, dass die AFD als Nachrücker das Direktmandat bekommt, wenn Sie am meisten Einzelstimmen erhalten?

Sehr geehrte Frau M.,
vielen Dank für Ihre Verständnisfrage zum neuen Wahlrecht.
Da ich ein Einzelkandidat bzw. "anderer Wahlkreisbewerber" bin, unterliege ich nicht der neu eingeführten Zweitstimmendeckung.
Das bedeutet, dass ich einen Sitz im Bundestag bzw. das Direktmandat bekomme, sobald ich die meisten Erststimmen im Wahlkreis bekomme. Das ergibt sich aus §20 Absatz 3 BWahlG in Verbindung mit §6 Absatz 2 BWahlG.
Da das neue Bundeswahlgesetz die Anzahl der Sitze im Bundestag auf 630 festlegt (vgl. §1 Absatz 1 BWahlG), hat der Gesetzgeber vorgesehen, dass die erfolgreichen Einzelbewerber:innen ihre Sitze bekommen, bevor die restlichen Sitze an die Parteien verteilt werden (vgl. §4 Absatz 1 BWahlG).
Die Direktkandidierenden der Parteien hingegen brauchen neben den meisten Erststimmen im Wahlkreis auch einen über die Zweitstimmen gewonnen, noch unbesetzten Sitz, um ihr Direktmandat zu bekommen. Dieses Verfahren wird als Zweitstimmendeckung bezeichnet und findet sich in §4 und §6 BWahlG beschrieben.
In der Konsequenz bedeutet das, dass Wähler:innen mit der Erststimme zugunsten von Direktkandidierenden der Parteien nur darauf einwirken können, ob die eine oder die andere Person der Partei den Sitz bekommt. Da beide Personen aber das selbe Parteiprogramm im Bundestag vertreten würden, scheint dies vor dem Hintergrund der Frage der staatlichen Willensbildung weniger bedeutend zu sein, weswegen einige die Erststimme als überflüssig erachten.
In Bezug auf den Einzelkandidaten stellt sich dies anders dar. Dazu möchte ich das Bundesverfassungsgericht zitieren:
"Mit der Möglichkeit, unabhängige Bewerber für die Wahlkreiswahl vorzuschlagen, sichert der Gesetzgeber das Wahlvorschlagsrecht aller Wahlberechtigten unabhängig von politischen Parteien als Kernstück des Bürgerrechts auf aktive Teilnahme an der Wahl. Dieses Korrektiv zur hervorgehobenen Rolle der Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes verhindert die Monopolisierung des Wahlvorschlagsrechts bei den politischen Parteien und dadurch eine Mediatisierung der keiner Partei angehörenden Bürger." https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2024/07/fs20240730_2bvf000123.pdf?__blob=publicationFile&v=2
Mit der Einzelkandidatur können die Wähler:innen einen Unterschied machen. Insofern sollten die Wähler:innen - wenn ihnen die Demokratie lieb ist - die von Einzelkandidaturen zur Wahl gestellten Inhalte bei der Wahlauswahlentscheidung zumindest prüfen.