Frage an Christian Ahrendt von Theresia S. bezüglich Recht
Sehr geehrter Herr Ahrendt,
im Rahmen meines Politikstudiums beschäftige ich mich auch recht intensiv mit Fragen zur Europäischen Integration. Derzeit schreibe ich an einer Hausarbeit, die sich -grob gesagt- um den Bereich der Strafrechtspflege dreht. Im Rahmen der Recherche ist mir nun aufgefallen, das mitlerweile ziemlich viele Bereiche von der EU geregelt werden. Es gibt zahllose Rahmenbeschlüsse zu den unterschiedlichsten Themenfeldern; viele weitere sind in der Pipeline. Das ist wohl so die Konsequenz, wenn man sich bereit erklärt, an dem großen Europa mitzubauen. Für mich als Laie ist es aber gar nicht so einfach, hier den Überblick zu bekommen, geschweige denn zu behalten. Nun gut...ich frage mich, wie es eigentlich kommt, dass sich der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in so vielen Regelungen wiederfindet? Je tiefer man in die verschiedenen Rahmenbeschlüsse bzw. -entwürfe einsteigt, desto häufiger begegnet man ihm. Und das finde ich etwas befremdlich! Denn ist es nicht so, dass dieser einst nur für merkantile (!) Güter gedacht war (Stichtwort: Cassis de Dijon)? Mittlerweile werden qua Grundsatz aber auch Menschen (!) quer durch Europa verschoben (Stichwort: Europäischer Haftbefehl). Ich habe das Gefühl, dass das nicht ganz richtig sein kann. Mein Frage deshalb an Sie: Was halten Sie denn, als Vertreter einer sog. Rechtstaatspartei, davon?
Mit freundlichen Grüßen aus Greifswald!
Sehr verehrte Frau Smolka,
vielen Dank für Ihre Anmerkung. Sie sprechen einen problematischen Punkt an!
Vor wenigen Wochen haben wir unter der Deutschen Ratspräsidentschaft den fünfzigsten Jahrestag der Römischen Verträge in Berlin gefeiert. Dazu gab es Anlass genug, denn mit der weitgehenden Verwirklichung der europäischen Einigung in Vielfalt, geboren aus der Einsicht in die Notwendigkeit einer vertieften Völkerverständigung und der Idee eines dauerhaften Friedens als Folge zweier nahezu alles vernichtender Kriege, ist das wichtigste Anliegen erfüllt.
Die europäische Einigung hat uns mehr Freiheit, Sicherheit und Wohlstand gebracht. Wir können weitgehend ohne Passkontrolle reisen, aber auch in den EU-Ländern leben und arbeiten. Dank der europäischen Einigung und des technischen Fortschritts leben wir heute so grenzenlos wie nie zuvor. Menschen, Waren und Dienstleistungen sind mobil geworden. In den kommenden fünfzig Jahren wird die Europäische Union nun ihre Reformbereitschaft, Handlungsfähigkeit und Integrationskraft unter Beweis stellen müssen. Insbesondere nach den letzten zwei Erweiterungsrunden, die zwölf mittel- und osteuropäische Staaten in die Gemeinschaft führte, stellen sich drängende institutionelle Fragen. Die FDP hat sich zur Lösung frühzeitig für die Verwirklichung des europäischen Verfassungsprozesses und damit für mehr Demokratie und Entscheidungsmöglichkeiten auf europäischer Ebene ausgesprochen. Die wichtigste Rolle im europäischen Einigungsprozess spielen jedoch die Bürgerinnen und Bürger. Ihre Herzen gilt es zu gewinnen! Glaubt man den zahllosen Umfragen, so hält eine wachsende Zahl jedoch nicht viel von der EU. Als eine von vielen Ursachen ist der als negativ empfundene Einfluss auf die Rechtsstellung der Bürger bzw. die Garantie ihrer persönlichen Freiheiten zu nennen. So hat beispielsweise der Rahmenbeschluss über den europäischen Haftbefehl einen tiefen Einschnitt in die bürgerlichen Freiheitsrechte bewirkt. Einmal mehr fiel dem Bundesverfassungsgericht die Rolle zu, nachhaltige Einschränkungen der Grundrechte abzuwenden. Diese Entwicklung in der europäischen Innen- und Justizpolitik bedarf aber gerade im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts der Korrektur, denn auf keinen anderen Lebensbereich der Menschen wirkt sich die staatliche Hoheitsgewalt schwerwiegender aus als hier. Die Möglichkeit, zu verfolgen, zu bestrafen und wegzusperren, hat deshalb stets hohen Rechtsmäßigkeitsanforderungen zu unterliegen. Auf meine Initiative hin hat sich der Europaausschuss Mitte Mai übrigens noch einmal sehr gründlich mit dem Rahmenbeschlussentwurf über die Vollstreckung von Strafurteilen beschäftigt. Es wurden extra zwei Strafrechtsexperten eingeladen, die in ihren Ausführungen zu dem Ergebnis kamen, dass bereits der Entwurf gegen das Grundgesetz verstoße. Die zusätzlichen Beratungen, gewissermaßen „kurz vor Zwölf“, denn die formale Beschließung auf dem nächsten Rat Justiz/ Inneres Mitte Juni stand an, führten nun aber dazu, dass der Europaausschuss die Kenntnisnahme verweigerte und sich noch einmal ausführlich mit der EU-Vorlage befassen will. Es wird -bis auf die SPD !- befürchtet, dass auch die Umsetzung dieses Rahmenbeschlusses am Bundesverfassungsgericht scheitern könnte.
Hauptkritikpunkt im Bereich der europäischen Zusammenarbeit in Strafsachen ist an dieser wie auch an jeder anderen Stelle im europäischen Einigungsprozess die unverkennbar bestehende Tendenz, den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung, der seit der höchstrichterlichen Entscheidung Cassis de Dijon für Waren und andere Wirtschaftsgüter im europäischen Binnenmarkt gilt, und dort auch unbestreitbar einen Sinn ergibt, ebenso auf den strafrechtlichen bzw. strafprozessualen Bereich zu auszudehnen. Dieser Weg ist jedoch falsch! Den Grundsatz unbeschränkt und auf niedrigstem gemeinsamen Niveau auf strafrechtliche Sachverhalte zu erstrecken, bedeutet, die fundamentalen Unterschiede zwischen Wirtschafts- und Strafrecht zu ignorieren. Folge ist eine massive Beschneidung von Grundrechten der Menschen. Sein Kernmerkmal ist die zwingende Anerkennung jener Regeln eines Mitgliedstaates, auf denen bestimmte justizielle Entscheidungen beruhen. Sobald eine Entscheidung durch eine Justizbehörde des Mitgliedstaates getroffen wird, ist sie von den anderen Mitgliedstaaten anzuerkennen und so schnell wie möglich und nur mit so viel Kontrolle wie nötig zu vollstrecken, und zwar so, als handele es sich um die eigene Entscheidung. Voraussetzung dafür, dass die Rechtsakte des anderen Mitgliedstaates ohne weiteres anerkannt werden können, ist jedoch das Vertrauen in die einschlägige Rechtsordnung. Es wird aber nur dann zu bilden sein, wenn die Grundsätze über straf- und strafverfahrensrechtliche Normen in den europäischen Mitgliedstaaten auf der Grundlage gemeinsamer (Mindest-) Rechtsstandards beruhen. Davon jedoch sind die Mitgliedstaaten in der EU heute weit entfernt. Leider muss man feststellen, dass sie in vielerlei Hinsicht noch nicht einmal genug Vorstellungskraft dafür besitzen, wie diese im Einzelnen überhaupt aussehen könnten.
Das Vertrauen in Strafverfahren, die auf der Basis gemeinsamer Vorstellungen zustande gekommen sind, stärkt nicht nur das Vertrauen der Mitgliedstaaten untereinander, sondern vor allem das der Bürgerinnen und Bürger in die EU. Einer vorausschauenden Europapolitik, die die von ihr betroffenen Menschen mitnimmt, kommt deshalb die Aufgabe zu, eingetretene Fehlentwicklungen zu korrigieren und in Zukunft zu vermeiden. Konkret heißt dies:
• Mindeststandards in Strafverfahren sind unabdingbar! Neben dem Bekenntnis zu einer Harmonisierung der nationalen Strafrechte gehört ein klares und uneingeschränktes Bekenntnis zu strafprozessualen Mindeststandards in Strafverfahren. Eine effektive europaweite Strafverteidigung ist nur so möglich! Kein Bürger der EU darf in einem Gefängnis festgehalten werden können, ohne dass man ihm umgehend einen Dolmetscher und Verteidiger zur Seite stellt. Indes gibt es gerade hiervon seit Einführung des Europäischen Haftbefehls Beispiele in hoher Anzahl. Die Bundesregierung muss sich deshalb um die zügige Etablierung fundamentaler Verfahrensgarantien (Unschuldsvermutung, Schweigerecht, Informations- und Äußerungsrechte etc.) kümmern. Nur wenn ein entsprechender Katalog vorliegt, kann deutlich werden, welche Grundrechte jenseits unterschiedlicher Vorstellungen mindestens zu beachten sind, um Strafprozesse in der EU als fair zu bewerten.
• Keine EU-weite Vollstreckung im Falle der Gefährdung des Resozialisierungsziels, oder wenn die verurteilte Person nicht generell zustimmt!
Der Rat der EU Justiz und Inneres strebt nach der politischen Einigung über den Entwurf des Rahmenbeschlusses über die Anwendung des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung auf Urteile in Strafsachen, durch die eine freiheitsentziehende Strafe oder Maßnahme für die Vollstreckung in der EU verhängt wird, die formale Verabschiedung an. Nachwievor fordere ich einen Verweigerungsgrund aus Gründen einer ungünstigen Resozialisierungsprognose und der mangelnden Zustimmung der verurteilten Person, und zwar als Regel und nicht als Ausnahme. Jede andere Lösung bietet keinen vollständigen Schutz der Rechte der verurteilten Person.
Die im Entwurf bereits vorgesehenen Mechanismen garantieren nicht die Erreichung des grundsätzlichen Ziels des Rahmenbeschlusses: die erfolgreiche Resozialisierung durch Verbüßung der Strafe in dem Land, in dem der Verurteilte familiäre, kulturelle, sprachliche und/ oder finanzielle Bindungen hat. Der Kerngedanke sinnvoller Resozialisierungsmaßnahmen ist jedoch, es dem Verurteilten zu ermöglichen, zwischenmenschliche Beziehungen, die durch die Straftat gestört wurden, wieder aufzubauen. Das kann nicht erreicht werden, wenn der Verurteilte von der durch ihn akzeptierten sozialen Umgebung vollständig abgetrennt wird. Damit kann die Beurteilung der Frage nach den Bindungen an den Vollstreckungsstaat stets nur von dem Verurteilten selbst vorgenommen werden. Sein Mitspracherecht ist für die soziale Wiedereingliederung deshalb unverzichtbar.
In einem offenen Europa, wo jeder selbst entscheiden können muss, wo er sich niederlassen möchte, darf es keine automatischen Verfahrensmechanismen geben. Aufgrund der in der EU vermehrt festzustellenden Migration von Deutschen und der daraus resultierenden Befürchtung, dass Personen überstellt werden könnten, die beabsichtigt haben, ihren Lebensmittelpunkt in den Verurteilungsstaat zu verlegen, ist die Frage nach dem Zustimmungserfordernis von großer Bedeutung. Aufgrund der Überstellungskriterien des Rahmenbeschlusses würden die nicht mehr ganz so ausgeprägten Bindungen an den verlassenen Staat letztlich höher gewichtet als jene an den neuen. Das könnte zur Folge haben, dass viele deutsche Staatsbürger gegen ihren Willen überstellt würden. Und das widerspräche dem Resozialisierungsgedanken. Damit wir uns nicht missverstehen, Frau Smolka: Es geht nicht darum, dass der Verurteilte entscheidet „ob“ und „in welchem Land seiner Wahl“ die Strafe vollstreckt wird, er soll vielmehr entscheiden können dürfen „nicht in Land X“. Die weiter oben bereits genannte Expertenbefragung im Europaausschuss hat hier ganz klar gezeigt: Der Rahmenbeschlussentwurf verschlechtert die Rechtstellung der Inhaftierten gegenüber der derzeitigen Rechtslage!
• Rahmenbeschluss Europäische Beweisanordnung geht zu weit!
Auch der Rahmenbeschluss über die europäische Beweisanordnung ist bereits weit fortgeschritten, aber birgt zugleich eine noch wesentlich höhere Brisanz und wird tiefgreifendere Auswirkungen haben als jener über den europäischen Haftbefehl, weil er Beweiserhebungen sowie Durchsuchungen und Beschlagnahmungen erlauben will, die die Mitgliedstaaten für einander national durchzuführen haben. Wegen des Grundsatzes der gegenseitigen Anerkennung sind die Ablehnungsgründe jedoch sehr beschränkt.
Eines der zahllosen Probleme bei diesem Rahmenbeschluss ist, dass der jeweils national zugrunde liegende Durchsuchungs- und Beschlagnahmebeschluss in vielen Mitgliedstaaten auf geringster Verdachtstufe und ohne Richtervorbehalt möglich sein soll. Es gilt im Extremfall also das strafverfahrensrechtlich niedrigste europäische Niveau bei gleichzeitiger materiell-strafrechtlicher höchstmöglicher Strafbarkeit.
Die Beweisanordnung soll auch für nahezu alle Delikte eingesetzt werden können. Durchsuchungen - insbesondere im Unternehmensbereich - werden an der Tagesordnung sein (Beispiel: Durchsuchung bei Siemens wegen Cyberkriminalität auf Grundlage einer rumänischen Europäischen Beweisanordnung!).
Wenn es auf strafrechtlicher Rahmenbeschlussebene ein wichtiges Thema gibt, auf das wir unsere staatsbürgerliche Aufmerksamkeit lenken sollten, dann ist es aus meiner Sicht dieses. Hier schlägt der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung in seiner ganzen Härte zu!
Mit freundlichen, liberalen Grüßen
Ihr Christian Ahrendt