Frage an Christian Ahrendt von Guido S. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen
Sehr geehrter Herr Ahrendt,
ich wende mich an Sie als Mitglied des Ausschusses für die Angelegenheiten der Europäischen Union und wüsste gerne ob Sie und der Ausschuss sich schon einmal mit dem Rechtsschutzstandard vor den europäischen Gerichten und insbesondere mit dem Rechtsschutz in Beamtensachen befasst haben.
Deren Praxis widerspricht meinen Rechtsstaatsempfinden völlig und ich denke es wäre lohnend, die allgemeinen Verfahrensrechte und die Gerichtspraxis im deutschen (national europäischen) Verwaltungs(Beamten)Recht einmal mit der Praxis auf europäischer Ebene zu
vergleichen:
Defizitie auf europäischer Ebene sind m.E.:
- das Fehlen einer Verpflichtungsklage;
- das Fehlen des Amtsermittlungsgrundsatzes gepaart mit:
o weitgehendem Verzicht auf Beweisaufnahmen;
o massiven Präklusionsregeln;
o Beschränkungen z.B. bzgl. Anzahl und Volumen der Schriftsätze;
o hohen Formalanforderungen an Schriftsätze und deren Vollständigkeit;
o dem Informationsmonopol der Institutionen;
o hohen Beweisanforderungen (z.B. hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit von Formverstößen)
- die Tatsache, dass die Rechtsprechung nicht in allen Gemeinschaftssprachen sondern fast ausschließlich in Französisch vorliegt und der daraus resultierenden Ungleichgewichte;
- ein Befangenheitsrisiko der Richter, die ja selbst Dienstherrenaufgaben wahrnehmen;
- die Aussichtslosigkeit einstweiligen Rechtsschutzes;
- die langen Verfahrensdauern;
- das obligatorische Vorverfahren;
- die fehlende öffentliche Kontrolle der Rechtsprechung;
- …
Ich würde mich freuen wenn Sie sich das Thema einmal ansehen könnten und kann Ihnen gerne weitere Hinweise z.B. auf besonders interessante Urteile und Beschlüsse der Gerichte geben.
Sind Sie der Meinung dass dieser Rechtsschutz den Standards des Grundgesetzes und den Vorgaben des BVerfG entspricht?
Mit freundlichem Gruß
G. Strack
Sehr geehrter Herr Strack,
vielen Dank für Ihre Frage, ob ich der Meinung sei, der Rechtsschutz auf europäischer Ebene entspreche den Standards des Grundgesetzes (GG) und den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG).
Diese Frage kann ich bejahen.
Formal betrachtet steht dem Rechtsuchenden auf europäischer Ebene ein intaktes Rechtsschutzsystem zur Verfügung. Die Gerichtsbarkeit der Gemeinschaft ist dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) und dem Europäischen Gericht 1. Instanz (EuG) zugewiesen (Art. 220 Abs. 1 EG). EuGH und EuG sichern die „Wahrung des Rechts bei Auslegung und Anwendung des Vertrages“; dieser Satz bezieht sich insbesondere auch auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze, deren Heranziehen zur Lückenschließung und Ergänzung des Gemeinschaftsrechts erforderlich ist. Neben den Bestimmungen der Art. 220ff. EG sind auch die Satzung des EuGH, die Verfahrensordnung für das EuG sowie die vom EuGH erlassene Verfahrensordnung Rechtsgrundlagen der europäischen Gerichtsbarkeit.
Der EuGH folgt einer „dynamischen“ Auslegungsmethode, die sich vorrangig an den Vertragszielen und der bestmöglichen Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts orientiert. In Anlehnung an die französische Rechtslehre fällt in der Rechtsprechung des EuGH auch die richterliche Rechtsfortbildung und Rechtsfindung unter den Begriff der Auslegung.
Gegen die Entscheidungen des EuG kann ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel beim EuGH eingelegt werden (Art. 225 I EG, Art. 56 Satzung des EuGH). Der EuGH ist dann die 2. Instanz, vergleichbar einer Revisionsinstanz in Deutschland.
Die europäische Rechtsordnung gewährt Rechtsschutz nicht nach einer den Rechtsweg eröffnenden Generalklausel, wie beispielsweise §40 der Verwaltungsgerichtsordnung, sondern auf Grundlage eines enumerativen Katalogs von Einzelzuständigkeiten.
Auch bei materiell-rechtlicher Betrachtung ist hinreichender Rechtsschutz auf Gemeinschaftsebene gewährleistet. Diese Auffassung hat das BVerfG im Solange-II-Beschluss sowie dem Maastricht-Urteil bestätigt.
Das Gericht geht davon aus, dass auf Gemeinschaftsebene ein Grundrechtsschutz durch den EuGH gewährleistet wird, der nach Inhalt und Wirksamkeit im wesentlichen dem Schutz entspricht, der nach dem GG geboten ist. Folge hiervon ist, dass das BVerfG Gemeinschaftsrechtsakte nicht an den Grundrechten des Grundgesetzes überprüft, sondern grundsätzlich allein deren Vereinbarkeit mit Gemeinschaftsgrundrechten entscheidend ist. Zudem verlangt das BVerfG keine vollständige Gleichheit von gemeinschaftsrechtlichem und deutschem Grundrechtsschutz.
Allerdings besteht ein wichtiger Vorbehalt. Das BVerfG verzichtet auf die Ausübung seiner Rechtsprechung nur insoweit, als auf Gemeinschaftsebene ein ausreichender Grundrechtsschutz durch den EuGH generell gewährleistet wird, und dieser Schutz den Wesensgehalt der Grundrechte und damit den vom GG gebotenen Mindeststandard generell verbürgt. Wären diese Voraussetzungen nicht mehr erfüllt, würde das BVerfG seine Kontrolle über Rechtsakte der Gemeinschaft wieder ausüben. Da es somit allein auf eine generelle Gewährleistung der unabdingbaren Grundrechtsstandards ankommt, muss der gemeinschaftsrechtliche Grundrechtsschutz dem Grundrechtschutz nach dem GG nicht voll entsprechen. Auch sind gelegentliche Fehlurteile, wie sie bei keinem Gericht ausgeschlossen werden können, wohl unerheblich und hinzunehmen.
Ich hoffe, Ihnen geholfen zu haben!
Mit freundlichen, liberalen Grüßen
Christian Ahrendt