Frage an Christel Happach-Kasan von Henning G. bezüglich Staat und Verwaltung
Sehr geehrte Frau Happach-Kasan,
ich sehe den Föderalismus in unserm Land immer mehr als Hindernis bei der Bewältigung der notwendigen Reformen für unsere Zukunft in Deutschland – sei es die Bildung, die Steuern und die schnelle Anpassung auf wirtschaftliche Bedingungen usw.
Wie stehen Sie zu dem Thema „Abschaffung des Föderalismus“ und der „Kleinstaaterei“ in Deutschland? Wir sind doch alle deutsche Staatsbürger und sollten in der gesamten Bundesrepublik überall gleich Voraussetzungen vorfinden!
Freundliche Grüße
Henning Giese
Sehr geehrter Herr Giese,
vielen Dank für Ihre interessante Frage.
Ihre Kritik am Föderalismus erwächst sicher aus der Beobachtung, dass in der Vergangenheit oftmals Bund und Länder sich sehr oft gegenseitig blockiert haben. Beim Vollzug von Bundesgesetzen durch die Länder haben letztere manchmal weniger den effektiven Gesetzesvollzug im Auge als Profilierungen, die oftmals zu mehr Bürokratie führen. Dennoch meine ich, dass dies kein Grund ist, ihn abzuschaffen. Mit dem Föderalismus sind Vorteile verbunden, die seinen Erhalt mehr als rechtfertigen. Die Realisierung der Einheit seit 1990 ist durch die föderale Struktur von Deutschland deutlich erleichtert worden. Wir sollten den Föderalismus nicht abschaffen, sondern ihn reformieren.
In einem zusammenwachsenden und sich globalisierenden Europa finden Menschen Halt und Orientierung in Ihrer regionalen Verwurzelung. Diese wird durch die föderale Gliederung Deutschlands gestärkt. Die EU trägt diesem ebenfalls Rechnung: Das „Europa der Regionen“ ist ein politisches Konzept, das die Regionen in den EU-Mitgliedsländern fördern und in ihrer regionalen Eigenständigkeit unterstützen will. Im EU-Vertrag von 1992 (Art. 198a) wurde ferner die Einrichtung eines Beratenden Ausschusses der Regionen vereinbart.
Der Föderalismus hat bei uns eine uralte Tradition, die bis ins Heilige Römische Reich Deutscher Nation zurückreicht. Im 19. Jahrhundert entstand aus vielen Klein- und Kleinststaaten nach verschiedenen Zwischenstationen wie dem Norddeutschen Bund das Deutsche Reich. 1871 waren im Bundesrat 25 Bundesstaaten vertreten. Die damalige Kleinstaaterei können wir uns heute kaum noch vorstellen, beispielsweise unterschiedliche Maßsysteme in den verschiedenen Kleinstaaten: Es gab auch in den einzelnen Ländern individuelle Zeiten, in Bayern beispielsweise die Münchner Ortszeit, die gegenüber der in ganz Preußen geltenden Berliner Zeit einen Versatz von 7 Minuten (entsprechend etwa zwei Längengraden) hatte. Und es gab Zölle an jeder Landesgrenze, was bereits 1834 zur Bildung des Deutschen Zollvereins führte.
Nur in der Zeit des Nationalsozialismus war Deutschland ein Zentralstaat. 1933 nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten waren die selbständigen Landesregierungen zu Gunsten nationalsozialistischer Gauleiter und Reichsstatthalter entmachtet worden. Der Nationalsozialismus war für Deutschland und die Welt eine Katastrophe.
Nach dem zweiten Weltkrieg erhielt die Bundesrepublik Deutschland dem Willen der Alliierten entsprechend wiederum einen föderalen Aufbau. Es wurden damit Lehren aus dem Nationalsozialismus gezogen.
Der Kritik an bestimmten Fehlentwicklungen des Föderalismus steht eine spezifische regionale Identität vieler Bürgerinnen und Bürger dem Land gegenüber, in dem sie leben oder in dem sie geboren und aufgewachsen sind. Initiativen, Bundesländer zusammenzulegen, beispielsweise die Bildung eines Nordstaats oder die Zusammenlegung von Berlin mit dem Land Brandenburg haben bisher keine Mehrheit gefunden. Die einzige Ausnahme ist die Gründung des Landes Baden-Württemberg 1952 aus vorher drei Bundesländern. Der Verfassungsstreit über die Zusammenlegung dauerte bis ins Jahr 1969.
Die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland ergibt sich aus dem Grundgesetz. Bereits die Präambel verweist auf die bundesstaatliche Ordnung, in dem sie die einzelnen Bundesstaaten aufzählt:
"Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk."
Artikel 20 des Grundgesetzes bestimmt:
"Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat."
Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes, dieser Absatz wird "Ewigkeitsklausel" genannt, wird dem Gesetzgeber verboten, die föderale Struktur der Bundesrepublik Deutschland aufzuheben. Dort heißt es:
"Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig."
Dieser Ewigkeitsklausel steht Artikel 146 des Grundgesetzes gegenüber, der bestimmt: "Dieses Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem gesamten deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Ich halte es allerdings für wenig wahrscheinlich, dass dieser Artikel zur Anwendung kommt.
Nach meiner Überzeugung hat sich der Föderalismus in Deutschland bewährt. Er ist identitätsstiftend, Entscheidungen mit spezifisch regionaler Ausprägung werden vor Ort getroffen, er hat dazu beigetragen unsere kulturelle Vielfalt zu erhalten. Der Föderalismus erzeugt einen Wettbewerb zwischen den Bundesländern, der einen zusätzlichen Anreiz für gute Lösungen in den Bundesländern schafft.
Deutschland hilft zur Auflösung des Reformstaus nicht die Abschaffung föderaler Prinzipien, sondern vielmehr deren konsequente Beachtung. Viele Probleme der täglichen Gesetzgebungspraxis im deutschen föderalen System liegen an der Vermischung der Entscheidungsebenen. Weil der Bund sich etwa seit 1960 immer mehr Kompetenzen angeeignet hat, nahm die Zahl der Bundesgesetze zu, bei denen der Bundestag die Zustimmung des Bundesrates, der Länderkammer, benötigte. So wurde der Bundesrat schleichend zur zweiten Kammer der Bundesgesetzgebung, wodurch Gesetzgebungsverfahren zumindest verzögert, wenn nicht teilweise verhindert wurden.
2003 wurde deshalb die "Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" eingesetzt und 2006 nach deren Vorarbeit die "Föderalismusreform 1" beschlossen, deren Ziel die klarere Abgrenzung der Kompetenzen ist. Die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze wurde deutlich vermindert (von über 60% auf unter 40%), Rahmengesetzgebungen des Bundes wurden abgeschafft. Mit der Föderalismusreform 2 wurde 2009 nicht nur die "Schuldenbremse" verankert, sondern es wurden auch die Finanzbeziehungen neu geordnet (VIIIa. Grundgesetz, Gemeinschaftsaufgaben, Verwaltungszusammenarbeit, Artikel 91a GG ff.)
Artikel 72 Absatz 2 fordert die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in Deutschland. Die finanzielle Unterstützung der ärmeren Länder durch die reicheren Länder trägt dazu bei, dieser Forderung des Grundgesetzes zu genügen.
Nicht Strukturen machen Politik, sondern Menschen. Ich halte manche Kritik am Föderalismus und seinen Abstimmungsnotwendigkeiten für ein politisches Feigenblatt, mit dem die bestehende Reformunwilligkeit nur notdürftig verdeckt wird. Wer sich ansieht, mit welch abenteuerlicher Geschwindigkeit am Beginn der Finanzkrise sinnvolle oder der Kritik würdige Gesetze beschlossen wurden, sieht: Das System ist schnell handlungsfähig, wenn die Beteiligten das wollen.
Inzwischen modernisieren Nachbarländer ihre zentralstaatlichen Ordnungen und führen föderale Elemente ein. Ein Beispiel dafür ist Frankreich. Frankreich hat begonnen, seinen über 200 Jahre bestehenden Zentralismus zu lockern: Das Gesetz über die "Rechte der Gemeinden, der Departements und Regionen" (Dezentralisierungsgesetz), das die Nationalversammlung im Jahre 1982 beschloss und dem inzwischen etwa 30 Gesetze sowie 300 Verordnungen gefolgt sind, hat eine geradezu revolutionäre Qualität. Ziel des Gesetzes ist die Stärkung der institutionellen Autonomie durch die Abschwächung der Staatsaufsicht und die Ausweitung der Kompetenzen der Gebietskörperschaften. Ihre jahrhundertelange Überwachung und Gängelung durch die zentralstaatlichen Instanzen sollte aufhören, eine freiheitliche dezentralisierte Ordnung diese ersetzen. Auch Großbritannien hat in den 1990iger Jahren in Wales, Schottland und Nordirland eigene Landesteilparlamente und -regierungen mit einem sog. Ersten Minister als Chef (vergleichbar einem Ministerpräsidenten in Deutschland) eingeführt und damit seinen Föderalismus gestärkt.
Der Föderalismus gehört für mich zu den tragenden Säulen unseres Verfassungsgefüges und ist Ausdruck der Vielfalt Deutschlands, seiner Regionen und Landsmannschaften. Er ist ein Instrument der Bürgernähe, um das uns mancher Zentralstaat beneidet. Gleichzeitig sind eine kritische Würdigung der Verwaltungspraxis, eine Verbesserung der Zusammenarbeit der Bundesländer, die Vermeidung von Doppelarbeit dringend erforderlich. Die Zusammenlegung von Bundesländern darf kein Tabu sein.
Mit freundlichen Grüßen
Christel Happach-Kasan