Frage an Carsten Schneider von Jörg H. bezüglich Finanzen
Sehr geehrter Herr Schneider,
zweifellos durchleben wir momentan die kritischste Phase der Krise des internationalen Finanzsystems, die nun auch mit voller Wucht auf die Wirtschaft durchzuschlagen beginnt. Ich habe allerdings den Eindruck,als dringe man in der öffentlichen Diskussion nicht zum eigentlichen Wesen der Krise durch, was sich darin zeigt als genüge es z. B. einige Korrekturen in die bestehende Finanzarchitektur einzubauen und Managergehälter gerechter zu gestalten. Ebenso bestehen bei mir große Zweifel daran , daß die weltweiten Milliarden-Rettungspakete das System stabilisieren könnten. Wie möchten Sie denn mit den Aberbillionen angehäuften Wettschulden aus den Derivatkontrakten verfahren? Selbst Alan Greenspan mußte zugeben, daß diese Wettschulden der Totengräber des Systems sind. Wäre es nicht endlich an der Zeit, den Bankrott des Systems öffentlich einzugestehen. Als politische Erklärung, gemeinsam mit den anderen wichtigen Wirtschaftsnationen?! Dann kann man es sich nämlich ersparen dem Steuerzahler etwas aufzubürden,was eh nicht bezahlbar ist. Im Interesse unser aller Zukunft muß man international zu einer Übereinkunft gelangen, welche den Systembankrott erklärt, und den angehäuften gigantischen Turm uneinlösbarer Derivateschulden in einem geordneten Konkursverfahren faktisch annuliert. Es ist "nur Spielgeld"!!! Dann flankiert durch Maßnahmen, welche geeignet sind die physische Wirtschaft aufrechtzuerhalten und durch die Rückkehr zu einer Finanzarchitektur wie wir sie weltweit bis etwa 1971 mit Bretton Woods hatten, haben wir meiner Meinung nach eine Chance dem Chaos zu entgehen. So, wie die Dinge jetzt laufen, und unter der Prämisse , dass es so weitergeht, dürfte es meiner Ansicht nach auch zu tiefgreifenden politischen Umwälzungen in unseren westlichen Demokratien kommen.
Ihren Überlegungen dazu sehe ich mit großem Interesse entgegen.
Mit freundlichen Grüßen. Jörg Haase
Sehr geehrter Herr Haase,
in der für "Abgeordnetenwatch" gebotenen Kürze: Ich kann Ihrem Vorschlag so nicht zustimmen. Natürlich gibt es Finanzprodukte, die auf einer Wette z.B. über den Kursverlauf von Wertpapieren oder anderem basieren. Es ist mir gegenwärtig aber nicht bekannt, welche - international oder national ermittelte - Summe aus solchen Derivatgeschäften gebildet werden könnte. Auch kann ich nicht abschließend beurteilen, ob solche Derivatgeschäfte (mit-) ursächlich für die internationale Finanzkrise waren. Nach meinen Informationen spielten sie nicht die entscheidende Rolle am Entstehen der gegenwärtigen Krise.
Sie schreiben selbst, Wettschulden aus derivaten Kontrakten beruhen auf Verträgen zwischen zwei oder mehreren Vertragspartnern. Das heißt, sie sind hinsichtlich ihrer Konsequenzen auch zunächst Sache Marktteilnehmer. Ich sehe nicht, welche Einstandspflicht die Bundesregierung bzw. der Bund hier haben sollte und erst recht nicht, dass man durch eine internationale Annullierung dieser Geschäfte, wie Sie vorschlagen, irgendetwas erreichen könnte.
Fakt ist, dass die Realwirtschaft zwingend auf funktionierende Finanz- und Kapitalmärkte angewiesen ist. Ohne eine hinreichend auskömmliche Kreditversorgung kann kein Wirtschaftssystem florieren. Für mich eindrucksvollstes Beispiel sind übrigens die Mikrokredite in Entwicklungs- und Schwellenländern. Muhammad Yunus hat mit seiner Bank in Bangladesch hierfür im vergangenen Jahr zu Recht den Friedensnobelpreis erhalten. Daraus folgt meines Erachtens, dass es Aufgabe des Staates ist, die Versorgung der Bürgerinnen und Bürger, der kleinen und mittleren Unternehmen mit Finanzdienstleistungen sicherzustellen. Das kann nach meiner Überzeugung nur eine Stabilisierung des Interbankenmarktes sowie kurzfristige Maßnahmen zur Stützung von betroffenen Branchen meinen. Und dies ist in der Tat für den Steuerzahler auch bezahlbar, weil wir beispielsweise über die staatlichen Garantien, die Bankinstitute in Anspruch nehmen können, langfristig auch Zinsgewinne erzielen.
Die tiefgreifenden politischen Umwälzungen, die Sie befürchten, haben im Übrigen bereits eingesetzt. Das bisherige Land des "Turbokapitalismus", die Vereinigten Staaten von Amerika, sind, wenn Sie mir diese saloppe Bemerkung erlauben, zu den "Vereinigten Verstaatlichungen von Amerika" geworden - ein Prozess, der bislang undenkbar war. Im Übrigen zeigt sich in dieser Krise, dass alle Rufe nach weniger Staat, weniger Kontrolle und mehr Freiheit für die Märkte, die wir in den vergangenen Jahres so oft hören mussten, nun endgültig ins Leere gegangen sind.
Mit freundlichen Grüßen
Carsten Schneider