Frage an Carsten Molitor von Gudrun S. bezüglich Europapolitik und Europäische Union
Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe prüft zurzeit die Kompatibilität des Lissabon-Vertrages mit dem deutschen Grundgesetz. Der Prozess erregt großes Aufsehen, Bundeskanzlerin Merkel sowie Vize-Kanzler Steinmeier erschienen persönlich zur Verhandlung, um das EU-Übereinkommen zu verteidigen. Unter anderem klagt der Vorsitzende der Kleinpartei ÖDP Klaus Buchner. Alle Kläger werfen dem Reformvertrag Verfassungswidrigkeit vor, da sich die EU durch die geplanten Kompetenzerweiterungen alle relevanten Politikfelder zu Eigen machen könne. Sie sei dann in der Lage, sich selbsttätig neue Kompetenzen zu schaffen, da mit Ratifizierung des Vertrages durch alle Mitgliedsstaaten beinahe das gesamte Vertragswerk der Union dem eigenen Ermessen obläge. Von Karlsruhe gehe die Kontrolle über die deutschen Grundrechte direkt nach Luxemburg. Kritiker prognostizieren die zukünftige Rolle des Bundestages als „Erfüllungsgehilfe“ der EU. Alle Kläger haben keineswegs vor, ihre schweren Anschuldigungen im Keim ersticken zu lassen.
Wie ist es Ihrer Meinung nach zu bewerten, dass diese Klagen vom Bundesverfassungsgericht erst nach der Europawahl weiter behandelt werden sollen?
Sehr geehrte Frau Sievers,
nach meinem bisherigen Kenntnisstand ist mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in Bezug auf den EU-Reformvertrag von Lissabon Ende Mai oder Anfang Juni zu rechnen. Prinzipiell sähe ich allerdings auch kein Problem darin, falls sich die Urteilsverkündung auf einen Zeitpunkt nach der Europawahl verschiebt. Sicherlich würde ein Urteil (ganz egal wie es ausfällt) vor der Europawahl beispielsweise der ÖDP Auftrieb verleihen, aber ich bin überzeugt davon, dass niemand aus Opportunitätsgründen gegen das Vertragswerk klagt, sondern dass das aus tiefster Überzeugung geschieht.
Der EU-Reformvertrag von Lissabon ist in meiner Sichtweise lediglich die Spitze eines Eisberges. Seit Jahren bewegen wir uns tendenziell hin zu einer "Entdemokratisierung". Auch die Verschärfungen der Zensur- und der Überwachungsmöglichkeiten sehe ich äußerst kritisch. Hier werden meines Erachtens nach die Freiheitsrechte der Bürger ein Stück weit beschnitten. Diesen Entwicklungen müssen wir Einhalt gebieten. Das Wort "Reform" kann man schlichtweg streichen, denn zumindest im Sinne von "Verbesserung" sehe ich nur wenig Anhaltspunkte.
Bei aller Kritik (die wesentlichste hatte ich bereits in einer vorhergehenden Antwort erläutert) am Vertrag von Lissabon, möchte ich diesen aber auch nicht komplett verteufeln. Man sollte den Bürgern nur die Wahrheit sagen und sie in die Gestaltung einer europäischen Verfassung mehr mit einbeziehen. Vielleicht noch einmal kurz zu 3 entscheidenden Punkten, dessen Tragweite bei den Bürgern sicherlich noch nicht angekommen ist:
1. Sowohl mit der Übertragung der Außen- und Sicherheitspolitik auf die EU als auch mit der Schaffung einer Rüstungsagentur, verlieren wir mehr und mehr die Kontrolle über die Aufrüstungs- und Kriegsgefahren. Die nationalen Parlamente werden entmachtet und Entscheidungen hinter verschlossene Türen verlagert.
2. Der EU-Arbeitsweisevertrag formuliert, dass die sozialen Standards nur verbessert werden sollen, wenn dieses keinen Wettbewerbsnachteil für die Industrie nach sich zieht. Jede Verbesserung eines sozialen Standards kostet allerdings Geld und somit ist dieser Passus als Absage an den Sozialstaat zu sehen.
3. Die Versammlungsfreiheit der Bürger wird verkompliziert, denn Tötungen zur rechtmäßigen Niederschlagung eines Aufruhrs werden erlaubt. Was nun "rechtmäßig", eine Versammlung, eine Demonstration oder ein Aufruhr ist, wird zur Definitionssache. Im Klartext heißt das für mich persönlich, dass man nicht mehr ohne Angst für seine Rechte auf die Straße gehen kann.
Betrachtet man nun die aufgeführten Punkte 1-3 und kombiniert diese miteinander, dann ängstigt mich diese Mixtur.
Wie das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe das Vertragskonstrukt beurteilt, wird man abwarten müssen. Wie Sie bereits richtig festgestellt haben, wird dort ja auch "nur" die Kompatibilität mit dem deutschen Grundgesetz überprüft und keine sonstigen inhaltlichen Ausgestaltungen bewertet.
Falls mehr Zeit zur Abwägung der einzelnen vorgetragenen Argumente nötig ist, so ist eine Verschiebung des Urteils für mich willkommen. Ich erwarte dieses und die dazugehörigen Begründungen mit Spannung.
Liebe Grüße
Carsten Molitor