Frage an Carola Stauche von Edgar G. bezüglich Innere Sicherheit
Können Sie mir den Fortgang des Demokratisierungsprozesses in Afgahnistan erläutern und wie weit die Bundeswehr ihrer strategischen Zielsetzung gekommen ist?
Sehr geehrter Herr Günther,
vielen Dank für Ihre Anfrage vom 9. Juli 2011, in der Sie um Erläuterung des Afghanistan-Konzeptes der Bundesregierung bitten. Ihr Interesse an der sicherheitspolitischen Diskussion begrüße ich ausdrücklich und bedanke mich für Ihre Anfrage.
Gern möchte ich Ihnen die aktuellen Entwicklungen darlegen sowie einige Detailinformationen liefern.
Vor dem Eingreifen der internationalen Gemeinschaft bestand in Afghanistan eine durch die Taliban errichtete Schreckensherrschaft, in der auch fundamentalste Menschenrechte missachtet wurden. Darüber hinaus war Afghanistan ein Rückzugsraum und Trainingsgebiet für Extremisten, die mit ihrer Gewalt alle liberalen Gesellschaften bedrohten. Aufgrund der weitreichenden Verquickung zwischen der Taliban-Regierung und Al-Qaida wurde den USA in der Folge der Anschläge vom 11. September 2001 vom UN-Sicherheitsrat das Recht auf Selbstverteidigung zuerkannt. Der folgende Einsatz amerikanisch geführter Streitkräfte in Afghanistan hatte den Sturz der Taliban zur Folge. Seither engagieren sich verschiedene Nationen im Land in dem Bestreben, den Terrorismus zurückzudrängen und rechtsstaatliche Strukturen zu etablieren. Dieses ist im unmittelbaren Interesse der deutschen Sicherheitspolitik, da auch die Bundesrepublik vom internationalen Terrorismus bedroht ist, wie aktuelle Beispiele immer wieder zeigen. Das übergreifende Ziel des Einsatzes ist es, die afghanischen Behörden in die Lage zu versetzen, selbst für Sicherheit und Stabilität in ihrem Land zu sorgen.
Zurückgehend auf eine Initiative der damaligen Rot/Grünen Regierung engagiert sich die Bundesrepublik Deutschland auf folgende Weise in Afghanistan:
Die International Security Assistance Force (ISAF) ist eine durch den UN-Sicherheitsrat mandatierte Mission unter Führung der NATO aufgrund der Ursprungsresolution 1386. Ziel der Mission ist die Unterstützung der afghanischen Regierung bei der Schaffung eines sicheren Umfeldes und leistungsfähiger Sicherheitsorgane für den Wiederaufbau Afghanistans. Die Bundeswehr ist durch einen Beschluss des Parlaments seit dem 22. Dezember 2001 am ISAF-Einsatz in Afghanistan beteiligt. Aktuell wurde das ISAF-Mandat im deutschen Bundestag am 28. Februar 2011 in seinem Umfang bis zu 5350 Soldaten bestätigt. Davon sind 350 als Reserve vorgesehen. Die mandatierte Gesamtstärke bedeutet nicht, dass dieser Rahmen zwangsläufig ausgeschöpft wird. Vielmehr geht es darum, personellen Spielraum zu erhalten, um in unvorhergesehenen Situationen flexibel reagieren zu können. In der Vergangenheit hatte sich das bisherige Mandat vielfach als zu knapp bemessen erwiesen. Grund hierfür sind auch die gestiegenen Aufgaben und Anforderungen in diesem Einsatz. Erstmalig befindet sich im Mandat eine konkrete Abzugsperspektive. Wenn es die Lage vor Ort erlaubt, kann mit einer schrittweisen Rückführung der Militärpräsenz Ende 2011 begonnen werden. Bis zum Jahr 2014 soll die Sicherheitsverantwortung in afghanische Hände übergehen.
Dem Einsatz der deutschen Streitkräfte liegt das Prinzip der „Vernetzten Sicherheit“ zugrunde. Dieser Ansatz sieht eine multilateral angelegte, ressortübergreifende Zusammenarbeit vor. Sicherheitspolitik ist weder rein national definiert, noch beschränkt sie sich ausschließlich auf poltische oder militärische Instrumente. Unser Ziel ist es deswegen, nicht nur militärische, polizeiliche und nachrichtendienstliche, sondern auch gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Faktoren in einem multinationalen Konzept wirksam aufeinander abzustimmen. Der Erfolg der zivilen Wiederaufbaubemühungen ist dabei ein essentielles Interesse der Streitkräfte. Nur mit einer funktionierenden wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur kann sich eine selbsttragende stabile Sicherheitslage entwickeln, die das Ziel der Afghanistan-Mission ist. Auf der anderen Seite ist dieser Aufbau momentan unmöglich ohne einen robusten militärischen Schutzschirm, unter dem sich die zivilgesellschaftlichen Prozesse entfalten können. Recht deutlich äußert sich diese Wechselwirkung darin, dass sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Hilfsorganisationen nur in den Sphären relativer militärischer Sicherheit, wie etwa in Kabul oder im Norden Afghanistans, erfolgreich arbeiten. In den umkämpften Gebieten im Süden Afghanistans – wo zivile Organisationen Anschläge und Entführungen befürchtet werden müssen – ist die humanitäre Hilfe fast gänzlich zum Erliegen gekommen. Da nur durch das gleichzeitige Stärken beider Säulen – zivilem Aufbau und militärischem Schutz – Fortschritte zu erreichen sind, versuchen wir durch die vernetzte Sicherheit hier eine möglichst enge Abstimmung zu erreichen. Das neue Fähigkeitsprofil, das sich hieraus für die Bundeswehr ergibt, hat der damalige Bundesminister der Verteidigung, Dr. Franz Josef Jung, unter den Oberbegriffen „Schützen, Helfen, Vermitteln, Kämpfen“ zusammengefasst.
Bei allen unseren Bemühungen betonen wir das Prinzip des „Afghan Ownership“, also die Verantwortlichkeit der afghanischen Stellen. Die Ausbildung der afghanischen Militär- und Sicherheitskräfte hat deswegen für uns eine hohe Priorität. Als Folge tragen die afghanischen Sicherheitskräfte mittlerweile in großem Maße selbst zur Herstellung der Sicherheit in ihrem Land bei und beteiligen sich an gemeinsamen Operationen mit ISAF und OEF, um diesen zunehmend ein „afghanisches Gesicht“ geben.
In 2009 gelang es die afghanischen Sicherheitskräfte soweit auszubilden und auszurüsten, dass sie eigenständige militärische Operationen durchführen können. Zunehmend fungieren die ISAF-Kräfte nur noch als Unterstützer der Afghanischen Nationalarmee. Dies ist ein Meilenstein für den Aufbau der nationalen Streitkräfte. Diese Entwicklung stimmt uns hoffnungsfroh in dem Bemühen, die Sicherheit mehr und mehr in afghanische Hände legen zu können.
In 2010 konnte mit der Aufstellung der Ausbildungs- und Schutzbataillone ein weiterer Schritt zum Erfolg getan werden. Mit dieser neuen Struktur wird in 2011 die „Übergabe in Verantwortung“ weiter konkretisiert. Das neue Vorgehen nach dem Prinzip des „partnering“ sorgt dafür, dass die Bundeswehr verstärkt und dauerhaft in der Fläche präsent ist. So werden einerseits das Vertrauen in der afghanischen Bevölkerung gestärkt und andererseits die Rückzugsräume und Aktionsradien der Taliban eingeengt. Anders als bei unseren amerikanischen Verbündeten, werden Bundeswehreinheiten jedoch geschlossen Seite an Seite mit Einheiten der Afghanischen Nationalarmee eingesetzt. Eine Vermischung der Einheiten wird es auch in Zukunft nicht geben. Auch für die Sicherung trägt die Bundeswehr eigenverantwortlich Rechnung.
Zudem setzt sich die Bundesregierung als Mitinitiator der Europäischen Polizeimission EUPOL dafür ein, dass der Aufbau der nationalen Polizei in Afghanistan weiter voranschreitet. Die dafür vorgesehenen Mittel hat die Bundesregierung von 12 Mio. Euro für 2007 auf 35,7 Mio. Euro für 2008 verdreifacht und in 2009 nochmals auf 43,2 Mio. Euro aufgestockt.
Werter Herr Günther, die vorangegangenen Ausführungen bestätigen, dass unsere fortlaufenden Bemühungen zu einigen eindeutigen Erfolgen geführt haben. Es ist uns bisher gelungen diverse Fortschritte in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Infrastruktur, Wirtschaftsentwicklung und Regierungsführung zu erzielen.
So wurden die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit durch die Verabschiedung der Verfassung und verschiedener Gesetze auf ein in Afghanistan bisher unbekanntes Niveau gehoben. In der Verfassung werden z.B. Frauen und Männer gleichgestellt, die wichtigsten internationalen Menschenrechtsabkommen haben Verfassungsrang und traditionelle Formen der Unterdrückung sind verboten worden. Darüber hinaus hat die afghanische Regierung seit 2008 zunehmend Eigenverantwortung im Wiederaufbauprozess übernommen und eine auf fünf Jahre angelegte Nationale Entwicklungsstrategie (ANDS, Afghanistan National Development Strategy) vorgestellt. Befördert wird die positive Entwicklung durch den voranschreitenden Aufbau von staatlichen Institutionen und Fachkräften. Hieraus resultieren beispielsweise Erfolge im Bildungssektor – fast 75% aller Jungen und 35% aller Mädchen gehen inzwischen zur Schule – und im Gesundheitsbereich – 85% der Bevölkerung haben jetzt Zugang zu medizinischer Basisversorgung. Auch die Zahl nationaler Entwicklungsprogramme – beispielsweise das National Solidarity Programm, welches bereits über 20.000 Projekte erfolgreich beendet hat und aktuell 18.000 weitere betreibt – steigt andauernd. Darüber hinaus engagieren sich 21.000 gewählte Gemeinderäte speziell im Bereich Entwicklung.
Lassen Sie mich noch ein paar Anmerkungen zu Rückzugsüberlegungen machen. Meiner Ansicht nach würde ein Rückzug der Bundeswehr zum jetzigen Zeitpunkt lediglich dazu führen, alle Fortschritte, die bisher gemacht worden sind, in Frage zu stellen. Auch die Sicherheit in Deutschland ist direkt vom Erfolg der Afghanistan-Mission abhängig. Im Falle eines Endes des Engagements der internationalen Streitkräfte, würde das Land innerhalb kürzester Zeit wieder zu einer Ausbildungsstätte für Terroristen werden, von denen auch für die deutsche Bevölkerung eine direkte Bedrohung ausgehen würde. Ein Rückzug aus Afghanistan würde Deutschland nicht vor Terroranschlägen schützen, wie manche behaupten. Wir würden uns bestenfalls das kurzfristige Wohlwollen von jenen Fanatikern erkaufen, die die Werte unserer Gesellschaft ohnehin als dekadent und schwach verachten. Viel dramatischer wären jedoch die Auswirkungen in Afghanistan selbst. Durch einen Rückzug würden wir alle Afghanen im Stich lassen, die sich keine Rückkehr in das Mittelalter und zu den Gewaltorgien der Taliban wünschen. Deutschlands Glaubwürdigkeit als Schützer seiner Bürger – aber auch als ehrlicher Vertreter humanitärer Grundwerte – stünde zur Disposition, wenn wir uns im Angesicht solcher Perspektiven unserer Verantwortung entziehen würden.
Das aktuelle Mandat ist das Ergebnis eines Lernprozesses. Es stellt die Weichen für die Übergabe der Sicherheitsverantwortung und ist geeignet, in Afghanistan erfolgreich zu sein. Gleichwohl ist der Einsatz immer mit Risiken verbunden. Dies haben die Gefechte, bei denen Bundeswehrsoldaten gefallen sind, auf tragische Weise bestätigt. Mit der Zusage, schwere Waffen in Nordafghanistan zu stationieren, hat der ehemalige Verteidigungsminister zu Guttenberg richtig auf die Sicherheitslage vor Ort reagiert. Panzerhaubitze 2000, Panzerabwehrraketen TOW und weitere Schützenpanzer Marder ermöglichen der Bundeswehr ein flexibleres Reagieren auf Bedrohungssituationen.
In Reden anlässlich von Trauerfeiern haben sowohl der ehemalige Verteidigungsminister zu Guttenberg, als auch Bundeskanzlerin Merkel betont, dass sie es verstehen, wenn umgangssprachlich von Krieg in Afghanistan gesprochen wird. An unserer Überzeugung, dass der Einsatz in Afghanistan notwendig ist, ändert das nichts. Diese sprachliche Klarheit ist vielmehr ein Zeichen von Ehrlichkeit der Bevölkerung und den Soldaten gegenüber.
Wir nehmen die Frage des Wiederaufbaus in Afghanistan außerordentlich ernst und unterliegen bei unserer Analyse der Situation keinerlei ideologischen Denkbarrieren. Für einen Erfolg unserer Arbeit in diesem Land sind wir bereit, neue Wege zu beschreiten. Unser Vorgehen und unser Konzept für Afghanistan ist das Ergebnis langfristig angelegter außen- und sicherheitspolitischer Erwägungen. Gleichzeitig versuchen wir der hohen Verantwortung gerecht zu werden, die wir für die afghanische Bevölkerung übernommen haben und die weiterhin Vertrauen in unsere Arbeit setzt.
Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesregierung auf dem richtigen Weg ist, um die schwierigen Herausforderungen zu bewältigen. Sowohl Afghanistan als auch die Bundesrepublik Deutschland werden hiervon fortwährend profitieren.
Ich hoffe, dass meine Antwort Ihnen eine Hilfe sein konnte und verbleibe
mit freundlichen Grüßen
Carola Stauche