Frage an Britta Ernst von Susanne M. bezüglich Bildung und Erziehung
Legasthenie-Erlass in Hamburg
cc: Christa Goetsch, Robert Heinemann
Sehr geehrte Frau Ernst,
ich habe vier Kinder im Alter von 5 bis 10 Jahren. Drei Jungen (10, 10 und 8 Jahre alt), ein Mädchen (5). Meine Söhne sind Legastheniker. Alle drei.
Das heisst, sie haben grosse Mühe mit dem Lesen und ganz besonders mit dem Schreiben.
Nicht, dass sie faul oder unwillig wären. Sprache erschliesst sich Lese-Rechtschreibschwachen Kindern lediglich anders, als dies in der Schule gelehrt werden könnte.
Also bekommen die Kinder Förderunterricht, zusätzlich zu ihrem "normalen" Schulalltag. Dieser Aufwand - und es sind immerhin bis zu 4 zusätzliche Stunden wöchentlich, plus Fahrt - lohnt sich. Wenn auch nur mühsam und langsam, und oft sind es die Kinder Leid, dass ihnen dadurch so wenig Freizeit bleibt.
In Hamburg gibt es keinen Legasthenie-Erlass. Das heisst, die Lehrer müssen Lese-Rechtschreibschwache Kinder mit dem selben Massstab messen, wie ihre schreibfähigeren Klassenkameraden.
Das hört sich grundsätzlich nicht negativ an, aber es wirkt sich katastrophal aus. Je nachdem, wie streng die Lehrer die Schulgesetzgebung auslegen.
Meine Grossen, zum Beispiel, sind kleine Logiktalente. Mathe macht ihnen Spass. Oder besser: machte. Denn mittlerweile erhalten sie für falsch geschriebene Textaufgaben auch Punktabzüge und können ihren Schwerpunkt nicht mehr zum Vorteil ausbauen. Eine 1 oder 2 in Mathe haben sie schon lange nicht mehr bekommen, auch wenn sie den Stoff mühelos beherrschen.
In Biologie, Natur und Technik, Erdkunde - auch da sind sie stark - schreiben sie ebenfalls höchstens Dreien oder Vieren und halten freiwillig ein Referat nach dem anderen, um wenigstens hin und wieder eine leistungsgerechte Zensur zu bekommen.
Ganz zu schweigen von Englisch. Die Kinder können sich seit der zweiten Klasse einwandfrei in der Fremdsprache verständigen, aber gerade hier greift ihre Lese-Rechtschreibschwäche natürlich noch einmal mehr. Schriftlich 5. Oder sogar 6. Je nachdem.
Diese Zensuren wandern ins Zeugnis. Das ist schon schlimm genug.
Aber in ihre Köpfe wandert langsam aber sicher - und es wundert mich fast, dass es so lange gedauert hat - eine grosse Resignation.
Und die Frage, warum sie eigentlich so unermüdlich "strampeln" müssen, um trotzdem an jeder Ecke Rückschläge einzustecken.
In den benachbarten Bundesländern gibt es besagten Legasthenie-Erlass längst.
Dort können gute Mathe-Schüler auch dann gute Noten schreiben, wenn ihre Textaufgaben voller Rechtschreibfehler sind. Dort können sie ihre Stärken ausbauen, erleben und als Motivation verwenden.
Dort verbaut ihnen ihre Teilleistungsschwäche nicht ihre Zukunft.
Keiner sagt, dass Legastheniker nicht grundsätzlich auch lesen und schreiben lernen sollten, wie jedes andere Kind auch. Ich kenne keines, das nicht die Zeit und Mühe für eine Zusatzförderung investiert. Und meistens noch viel, viel mehr.
Aber ich kenne nur wenige, die nicht mutlos werden, wenn sie auch in jedem anderen Fach ihre Schwäche zu spüren bekommen. Und selbst dort, wo ihre eigentlichen Stärken liegen.
In den meisten Fällen bekommen Legastheniker während oder kurz nach der Pubertät "die Kurve" und schreiben dann beinahe ebenso gut oder zumindest genau so mühelos wie ihre Altersgenossen.
Die verbreitete Furcht vor "rechtschreibschwachen Abiturienten" ist daher in der Regel total unbegründet.
Und auch davon abgesehen fiele mir kein einziger vernünftiger Grund ein für die unnötige Frustration, Demotivation und Diskriminierung, die diese Kinder trotz ihres hohen zusätzlichen täglichen Arbeitsaufwands erleben müssen.
In den 60er Jahren kam das Thema Legasthenie langsam auf. In der Klasse meiner jüngeren Schwester gab es bereits erste Förderunterrichtsprojekte.
Die gibt es heute in den Grundschulen auch. Jedenfalls theoretisch. Praktisch sind sie in Klassen mit 30 oder mehr Kindern kaum mehr durchführbar.
Wenn Eltern und Kinder viel Glück haben, ist die Lehrerin engagiert genug, um zumindest darauf hinzuweisen, dass eine ausserschulische Fördermassnahme sinnvoll wäre.
Ist das, nach knapp 40 Jahren, das einzige greifbare Resultat der Auseinandersetzung mit Teilleistungsschwächen?
Kann doch eigentlich nicht angehen, oder?
Warum also, um alles in der Welt, wird es gerade in unserer schönen Stadt den Kindern so unnötig schwer gemacht?
Herzliche Grüsse,
Susanne Mührke
siehe auch http://www.familienleben-hamburg.de/demos.php?menucontext=Foren&submenucontext=&subsubmenucontext=&id_viewback=23&view=detail&id_item=1029&subsubmenucontext=1029
Sehr geehrte Frau Mührke,
vielen Danke für ihre Hinweise zum Umgang mit Lese-Rechtschreibschwächen in Hamburg. Die SPD-Fraktion hat sich in der vergangenen Legislaturperiode diesem Thema gewidmet. Wir hatten im Juni 2003 eine Große Anfrage zum Thema "Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern und Jugendlichen: Wie wird den Betroffenen und ihren Eltern in Hamburg geholfen?" gestellt und auch ein Fachgespräch zu diesem Thema durchgeführt. Nach meiner Erinnerung ist diese Anfrage leider nicht in den Schulausschuss überwiesen worden.
Sie können die Große Anfrage unter der Nummer 17/2708 in der Parlamentsdokumentation bekommen, auch über das Internet.
Ich zitiere jetzt zwei Fragen aus der Großen Anfrage 17/2708 und die Antwort des Senates vom Juni 2003:
"Teilleistungsstörungen und Schullaufbahn
16. In seiner Antwort auf die Kleine Anfrage (Drucksache 16/3839) Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie) des Abgeordneten Dr. Mathias Petrsen hat der Senat im Februar 2000 mitgeteilt, dass er eine Rechtsverordnung gemäß §44 Absatz 2 HmbSG vorbereite, in der Beurteilungsgrundsätze festgelegt würden, die sich unter anderem auch auf die Berücksichtigung von Lernstörungen bei der Notengebung beziehen. Liegt diese Rechtsverordnung jetzt vor?
Nein. Die zuständige Behörde wird sich damit befassen, wenn die neuen ´Grundsätze zur Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderen Schwierigkeiten im Lesen und Rechtschreiben´ von der Kultusministerkonferenz verabschiedet worden sind (vgl. Drucksache 17/2501)
16.2. In welcher Weise werden die unterschiedlichen Formen der Teilleistungsstörungen in den Schulen bei Leistungsbewertungen und Versetzungsentscheidungen derzeit berücksichtigt?
Grundsätzlich gelten für alle Schülerinnen und Schüler in Hamburg die gleichen Beurteilungskriterien. Abweichungen hiervon sind im Einzelfall nur innerhalb des Rahmens möglich, den die Zeugnis- und Versetzungsordnung (ZVO) vorgibt. Nach der Zeugnis- und Versetzungsordnung für die Klassen 1 bis 10 der allgemeinbildenden Schulen ist die Festsetzung der Noten eine pädagogische-fachliche Gesamtbewertung der im Beurteilungszeitraum erbrachten Leistungen. Dabei ist die Entwicklung der Leistungen und des Arbeits- und Sozialverhaltens der einzelnen Schülerin oder des einzelnen Schülers zu berücksichtigen..."
Weiterhin hat die BBS im Jahr 2004 "Richtlinien für Außerunterrichtliche Lernhilfen (AUL) im Lesen, Rechtschreiben und Rechnen" erlassen. Hier ist aber der Anspruch auf zusätzliche Förderung geregelt, nicht die Frage der Leistungsbewertung.
Nach ihrer Schilderung erscheint es mir so, dass es weiteren Regelungsbedarf gibt. Die SPD-Fraktion wird dieses Thema daher im neuen Jahr erneut aufgreifen, um dies zu klären. Vielleicht können sie sich auch einmal direkt an mein Abgeordnetenbüro wenden (Tel: 30 68 23 -0, britta.ernst@spd-fraktion-hamburg.de)
Mehr kann ich zum jetzigen Zeitpunkt zu ihrem Anliegen nicht sagen. Wie ich bei Abgeordnetenwatch gesehen habe, hat ja auch Herr Heinemann von der CDU-Fraktion ihre Frage noch nicht beantwortet.
Ich wünsche ihnen einige ruhige Tage und einen guten Start ins neue Jahr.
Britta Ernst