Frage an Bettina Hagedorn von Wolfgang N. bezüglich Soziale Sicherung
Sehr geehrte Frau Hagedorn,
beziehen Sie mal Stellung zu dem Artikel des Internationalen Institut für Politik und Wirtschaft, Haus Rissen Hamburg, den ich leider Ihnen hiermit nur auszugweise zusenden kann, weil nicht mehr Zeichen in Ihren Postings möglich sind.
Im Einparteienstaat oder Demokratie als Fassade, (11.11.2005)
Wem verdanken wir den Kollaps der Sozialsysteme? Wer hat Schuld an der Explosion der Staatsschulden? Auf wessen Konto geht die Umwandlung des Arbeitsmarktes in ein Tarifkartell? In den letzten dreißig Jahren haben die beiden großen Volksparteien diese Probleme nicht erkennen wollen. Sie nährten immer weiter die Illusion, daß schmerzhafte Änderungen der Institutionen und Einstellungen nicht nötig seien. Der Sozialstaat wurde munter ausgebaut und der Arbeitsmarkt durch Regulierungen zerstört. Niemand kann ernsthaft erwarten, daß die Verursacher der Krise des deutschen Wirtschaftssystems, die Kraft finden, grundlegende Reformen einzuleiten.
Der mangelnde Wille der beiden Volksparteien zu Veränderungen hat einen einzigen Grund. Sie profitieren von der jetzigen Ordnung durch Privilegien, Posten, Geld und Prestige. Sie sind mit den öffentlichen Bürokratien so sehr verflochten, daß sie ihr eigenes Interesse mit dem des Staates und des Volkes gleich setzen. Was in den letzen drei Jahrzehnten nur wirklich Eingeweihten offensichtlich war, ist nun für alle erkennbar: Es gibt ein Machtkartell der Volksparteien, die unter sich die Pfründe des politischen Systems aufteilen. Machtwechsel und Koalitionen ändern im Prinzip nichts am Herrschaftsmechanismus "Volkspartei". Und so weiter und sofort....
Der gesamte Artikel ist nachzulesen unter dem Link:
http://archiv.hausrissen.org/analysen/2005eb_demokratie.html
Sehr geehrter Herr Niederndörfer,
vielen Dank für Ihre Frage vom 21.01.2007. Darin bitten Sie mich, zu dem Artikel „Im Einparteienstaat oder Demokratie als Fassade“ Stellung zu beziehen.
In seinem Artikel stellt der Autor wichtige und interessante Fragen: Wie kam es zur derzeitigen Lage der Sozialsysteme? Wie kam es zur hohen Staatsverschuldung und dem Wandel des Arbeitsmarktes? Leider verfehlt der Autor die Beantwortung dieser Fragen. Ohne die Gründe dieser Entwicklung genauer zu analysieren, findet er schnell die „Volksparteien“ als Sündenböcke.
Ich hätte mir gewünscht, dass der Autor sich etwas näher mit der historischen Entwicklung der finanziellen Schieflage der sozialen Systeme befasst hätte. Wahrscheinlich wäre er dann auch auf die Ursachen dieser Entwicklung gestoßen, ohne falsche Schlüsse zu ziehen.
Trotz mancher Einschnitte für die Rentner in den letzten Jahren ist der steuerfinanzierte Rentenzuschuss aus dem Bundeshaushalt von gut 50 Milliarden Euro 1998 auf knapp 80 Milliarden Euro 2003 gestiegen. Durch zahlreiche unpopuläre Maßnahmen konnten wir den Steuerzuschuss immerhin auf dem Niveau von 2003 stabilisieren. Seitdem ich 2002 in den Bundestag gewählt wurde, ist es eines der wesentlichen Ziele der SPD-Bundestagsfraktion sich in Verantwortung vor künftigen Generationen für die Begrenzung der Steuerzuschüsse zur Rentenkasse einzusetzen. Immerhin macht dieser Steuerzuschuss ein knappes Drittel des Gesamthaushalts aus. Grund für den starken Anstieg der Steuerzuschüsse bis 2003 war vor allem, dass die Anzahl der Rentner und die Bezugsdauer der Rente so enorm gestiegen sind. Diese Tendenz setzt sich fort. Insofern ist es schon ein ehrgeiziges Ziel, den Steuerfinanzierungsanteil an der Rente nicht weiter steigen zu lassen. Erfreulicherweise werden die Menschen heute immer älter, doch auch die Rentenbezugsdauer ist damit gestiegen. Während sie in den 60er Jahren noch knapp 10 Jahre betrug, liegt sie heute schon bei 17 Jahren. Angesichts der guten Lebensqualität und der steigenden Lebensdauer, bedeutet diese steigende Rentenbezugsdauer enorme Kosten. Deshalb schließe ich mich dem Ziel von Bundesarbeitsminister Müntefering an, das Renteneintrittsalter zu erhöhen. Als Mitglied im Haushaltsausschuss habe ich jahrelang für die Begrenzung der Altersteilzeit für Bundesbedienstete gekämpft, was die große Koalition 2006 auch endgültig beschlossen hat. Die Altersteilzeit ist nicht nur teuer für den Steuerzahler sondern auch das falsche Signal, weil wir die Arbeitsleistung und das Know-how der älteren Mitarbeiter dringend brauchen.
Seit 1998 reformiert die SPD die sozialen Sicherungssysteme, um auch in Zukunft eine hohe Leistungsfähigkeit zu erhalten. Am oben erwähnten Beispiel der Rentenversicherung möchte ich Ihnen unser Engagement für eine nachhaltige Entwicklung unserer Sicherungssysteme gerne erläutern. Den schon erwähnten starken Anstieg des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung konnten wir durch die Einführung der Ökosteuer abfangen. Hätte man den Zuschuss einfach gekürzt, hätte dies eine Kürzung der Renten um 4,4% bzw. durchschnittlich 52 € bedeutet. Durch die Einführung eines Nachhaltigkeitsfaktors, der die Rentner an den Lasten der demographischen Entwicklung beteiligt, konnten wir zudem den Anstieg der Rentenbeiträge dämpfen. Durch das Aussetzen der Rentenanpassung 2004, der Absenkung der Mindestnachhaltigkeitsrücklage, der Verschiebung des Auszahlungstermins der Renten, dem Vorziehen des Fälligkeitstermins der Sozialversicherungsbeiträge, sowie der Übernahme der Beiträge zur Pflegeversicherung durch die Rentner haben wir viel getan, um den Ausgleich konjunkturbedingter geringerer Beitragseinnahmen zu erreichen. All diese Maßnahmen waren unpopulär und politisch manchmal bei starkem Druck von Medien und Lobbyisten schwer auszuhalten. Die SPD hat es in den letzten Jahren häufig schwer gehabt Zustimmung für diese unvermeidbaren Reformen zu erhalten – dabei hätte ich mir mitunter gerade von den Medien mehr Aufklärung und eine mutigere Positionierung gewünscht. Ich werde mich auch in Zukunft für eine solide Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme einsetzen, weshalb ich der aktuell diskutierten Verlängerung des Altersteilzeit-Programms sehr kritisch gegenüberstehe.
Den Eindruck, dass die Parteien die Probleme nicht erkannt hätten und die Illusion nährten, dass schmerzhafte Änderungen nicht nötig seien, wie der Autor des von Ihnen zitierten Artikels schreibt, ist für mich nicht nachvollziehbar.
Zum Thema Staatsverschuldung: Seit der Nachkriegszeit wurden bis 1982 in der Bundesrepublik 160 Milliarden Euro Schulden angehäuft. In den 16 Regierungsjahren von Helmut Kohl kamen 580 Milliarden Euro dazu!!! Insofern betrug die Verschuldung 1998 beim Regierungsantritt Gerhard Schröders ca. 740 Milliarden Euro. Von 1998 bis 2005 stieg diese Verschuldung um weitere 130 Milliarden Euro, was einerseits mit einer jährlichen Zinsbelastung von mittlerweile fast 40 Milliarden Euro zu tun hat und andererseits der schwachen Wirtschaft, der hohen Arbeitslosigkeit und der Unterfinanzierung der sozialen Sicherungssysteme, wie dem Rentenzuschuss, geschuldet war. Fakt ist, dass gerade jetzt bei besserer konjunktureller Lage und sprudelnden Steuerquellen alles getan werden muss, um aus dieser Verschuldungsspirale herauszukommen.
Der letzte ausgeglichene Bundeshaushalt wurde 1969 vorgelegt. Seitdem waren alle demokratischen Parteien daran beteiligt, fast 40 Jahre lang in ununterbrochener Folge mehr auszugeben als eingenommen wurde – ich stimme ihnen zu, dass das unverantwortlich war. In der Regierung war die SPD 22 mal für diese Haushalte verantwortlich, die CDU trug 18 mal Verantwortung, die Grünen waren 7 mal beteiligt und die FDP 29 mal. Deutlich wird dabei, dass nicht nur die beiden großen Volksparteien die Verschuldung zu verantworten haben, sondern auch jene die heute als Oppositionsparteien sich gerne als „öffentliche Chefankläger“ aufspielen. In Wahrheit „sitzen wir alle in einem Boot“ und müssen gemeinsam „die Suppe auslöffeln“, die die Politik sich in knapp vier Jahrzehnten eingebrockt hat. Das Thema Generationengerechtigkeit liegt mir seit Beginn meiner politischen Tätigkeit 1986 sehr am Herzen, deshalb engagiere ich mich in Berlin auch im Haushaltsausschuss. Der einzige aber gewichtige Grund, warum ich z.B. der Gesundheitsreform nicht zugestimmt habe ist deshalb auch der, dass ich es gegenüber der nachfolgenden Generation nicht verantworten kann, die Gegenfinanzierung für diese Reform im zweistelligen Milliardenbereich offen zu lassen.
Unbestritten gibt es Probleme bei der Finanzierung unserer Sozialsysteme und der Staatsverschuldung. Mir als Haushälterin ist es besonders wichtig, diese Probleme in den Griff zu bekommen. Mein Ziel ist dabei, die notwendigen sozialen Errungenschaften zu erhalten, ohne den nachfolgenden Generationen eine übermäßige Schuldenlast aufzubürden, was ohne Einschnitte nicht möglich ist. Für die schlechte Haushaltssituation gibt es eine Vielzahl von Gründen: die demographische Entwicklung und eine relativ hohe Arbeitslosigkeit, die falsche Finanzierung der Wiedervereinigung über eine Belastung der sozialen Sicherungssysteme und ausbleibende Reformen während der Regierungszeit Helmut Kohls.
Der Artikel bezeichnet weiter die bundesrepublikanische Demokratie als ein „Machtkartell“, demokratische Wahlen würden dazu dienen, das Mitentscheiden zu suggerieren, und Parteienfinanzierung und Fünfprozenthürde würden dazu dienen, die Parteien vor Konkurrenz zu sichern.
Diese Ansicht lehne ich ab. Offensichtlich verkennt der Autor den Wert unserer Demokratie und ihrer Institutionen. Demokratie und die Freiheiten, die wir durch sie genießen, sind nicht selbstverständlich, wie wir aus unserer leidvollen Geschichte wissen. Unser Regierungssystem wird heute in der Weltgemeinschaft geachtet und geschätzt. Umso erstaunter macht es mich, wie der Autor zu seiner Auffassung gelangt.
Angesichts der zahlreichen friedlichen Machtwechsel aufgrund demokratischer Wahlen seit 1949 und der Etablierung neuer Parteien, wie den Grünen, kann man keineswegs von einem „Machtkartell“ sprechen. Die Wahlen sind allgemein, frei, gleich und geheim. Sie suggerieren nicht Mitbestimmung, sie sind Element von Mitbestimmung! Das Grundgesetz macht die Parteien zu einem unverzichtbaren Akteur, dessen Aufgabe es ist, an der politischen Willensbildung maßgeblich mitzuwirken. Um ihnen diese Aufgabe wirtschaftlich zu ermöglichen, erhalten sie eine staatliche Parteienfinanzierung. Hierdurch soll auch die Abhängigkeit von Großspenden oder dem Wohlwollen der Regierung reduziert werden. Die 5-Prozent-Hürde dient dazu stabile Mehrheiten zu fördern und tragfähige Regierungskoalitionen zu ermöglichen. Die instabilen Regierungen der Weimarer Republik mit ihren Koalitionen aus zahlreichen Kleinstparteien dienten hier als Negativbeispiel.
Ich hoffe, dass ich Ihnen durch meine Antwort meinen Standpunkt verdeutlichen konnte.
Mit freundlichen Grüßen
Bettina Hagedorn