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Bettina Hagedorn
SPD
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Frage von Tanja G. •

Frage an Bettina Hagedorn von Tanja G. bezüglich Gesellschaftspolitik, soziale Gruppen

Sehr geehrte Frau Hagedorn,

unter
http://www.abgeordnetenwatch.de/kathrin_vogler-031-71821--f392754.html#q392754

teilte die Bundestagsabgeordnete – es ging um die Teilnahme Deutschlands am Afghanistankrieg - mit:

"Das Instrument der Vertrauensfrage kann von einer Regierungsfraktion tatsächlich genutzt werden, um Abgeordnete zu einem Abstimmungsverhalten zu zwingen, das ihrer eigenen Überzeugung zuwiderläuft. Ich habe 2001 die SPD verlassen, weil sich fast alle SPD-Abgeordneten von Schröder und Peter Struck derart haben nötigen lassen, einem von vornherein verbrecherischen Krieg zuzustimmen - allein Christa Lörcher hat sich geweigert und die wurde 2002 nicht wieder für den Bundestag aufgestellt."

Welchen Wert hatte diese Abstimmung?
War diese Abstimmung mit dem Grundgesetz (Vorrang der Gewissensentscheidung) vereinbar?

Mit freundlichen Grüßen
Tanja Großmann

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Antwort von
SPD

Sehr geehrte Frau Großmann,

vielen Dank für Ihre Fragen zu den Themen Afghanistan und Gewissensentscheidung bei Abstimmungen im Deutschen Bundestag. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass ich 2001 noch nicht Mitglied des Deutschen Bundestages, und daher auch nicht an der Abstimmung beteiligt war. Ich bin meiner Vorgängerin für den Wahlkreis Ostholstein und Nordstormarn, Antje-Marie Steen, sehr verbunden und teile mit ihr eine pazifistische Grundhaltung. Somit kann ich Ihnen versichern: Frau Steen hat bei dieser Abstimmung wie jeder und jede Bundestagsabgeordnete selbstverständlich zuallererst ihr Gewissen befragt und sich ihre Entscheidung nicht leicht gemacht. Sie hat sich daher mit Sicherheit nicht zu ihrem Abstimmungsverhalten nötigen lassen, wie es Kathrin Vogler (Linke) unterstellt. Um Missverständnissen vorzubeugen, ist es hilfreich, hier noch einmal zwischen der Abstimmung im Bundestag zur ISAF-Mission in Afghanistan am 21. Dezember und der Abstimmung zur Beteiligung an der Operation Enduring Freedom am 16. November 2001 - hier hatte Gerhard Schröder die Vertrauensfrage gestellt - zu differenzieren. Ich nehme an, dass Sie sich auf die Abstimmung am 16. November beziehen.

Sie sprechen Art. 38 GG an. Dort steht, dass Abgeordnete des Deutschen Bundestages "an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind. Sie verweisen zu dieser Frage auch auf eine Äußerung ( http://www.abgeordnetenwatch.de/kathrin_vogler-1031-71821--f392754.html#q392754 ) von Kathrin Vogler, einer Bundestagsabgeordneten der Linkspartei. Die Behauptung von Frau Vogler, fast alle SPD-Abgeordneten hätten sich von Gerhard Schröder und Peter Struck nötigen lassen, einem von vornherein verbrecherischen Krieg zuzustimmen, ist für mich unhaltbar.

Der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende, der 2012 leider viel zu früh verstorben ist, hat sich in der Debatte ( http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/14/14202.pdf ) am 16. November 2001 sehr treffend geäußert: "Deshalb kann ich nach reiflichem Abwägen nicht erkennen, dass die Bereitstellung dieser militärischen Fähigkeiten ungebührlich, unmoralisch oder gar kriegstreibend wäre. Wie mir geht es den allermeisten Mitgliedern meiner Fraktion. Niemand, der zustimmt, hat sich die Entscheidung leicht gemacht. Ich wehre mich ganz entschieden gegen die Sichtweise, dass nur diejenigen, die den Beschluss nicht mittragen wollen, ihr Gewissen befragt haben, dass Zustimmung eine leichte Übung, Ablehnung aber eine große Gewissensanstrengung ist." und weiter: "Mit der Ablehnung einer vielleicht gar nicht mehr in Anspruch genommenen Bitte würden wir einen hohen Preis zahlen und dem Land auf unabsehbare Zeit Schaden zufügen. Dies darf kein Bundeskanzler zulassen. Er ist gewählt, um Schaden abzuwenden. Ein isoliertes Deutschland wäre ein schwerer Schaden. Deswegen brauchen der Bundeskanzler, der Außenminister und die Bundesregierung insgesamt in dieser Frage Klarheit. Deshalb ist es angemessen, dass Gerhard Schröder diese Frage mit der Frage nach dem Vertrauen zu ihm verbindet. Wer da von Erpressung redet, der hat nicht verstanden, was außenpolitische Handlungsfähigkeit für unser Land bedeutet."

Die internationale Gemeinschaft hatte sich 2001 dazu entschlossen, dem afghanischen Volk dabei behilflich zu sein, die bewaffneten Konflikte in Afghanistan zu beenden und die nationale Aussöhnung, einen dauerhaften Frieden, Stabilität und die Achtung der Menschenrechte zu fördern, sowie mit der internationalen Gemeinschaft zusammenzuarbeiten, um der Nutzung Afghanistans als Basis für den Terrorismus ein Ende zu setzen. Afghanistan sollte nicht wieder als Ruhe-, Rückzugs- und Regenerationsraum für den internationalen Terrorismus genutzt werden. Heute wissen wir, dass nicht alle im Jahr 2001 formulierten Ziele vollständig erreicht werden konnten. Ich denke, dass bei der Frage nach dem Wert der Abstimmung, durch die die deutsche Beteiligung ermöglicht wurde, anerkannt werden muss, dass das internationale Engagement die Bedingungen für die Menschen in Afghanistan - insbesondere auch für Frauen - eindeutig verbessert hat.

Ich habe kürzlich hier auf Abgeordnetenwatch.de eine ähnliche Frage beantwortet und mich dabei zum Thema Gewissensfreiheit geäußert: Als Abgeordnete sind wir zuvorderst unserem Gewissen verpflichtet. Im Bundestag ist über alle Fraktionsgrenzen hinweg unumstritten, dass jede Abstimmung über Auslandseinsätze im Parlament eine reine Gewissensentscheidung ist, die jeder Abgeordnete für sich selbst treffen muss. Ich versichere Ihnen, dass sich kein Bundestagsabgeordneter die Entscheidung, deutsche Soldaten ins Ausland zu entsenden, leicht macht. Meine Kolleginnen und Kollegen und ich sind uns unserer Verantwortung sehr bewusst und darum tragen wir selbstverständlich auch für alle Opfer einer solchen Entscheidung eine persönliche Verantwortung, zu der ich mich ausdrücklich bekenne. Am 9. März 2011 war ich auf Einladung von Propst Wiechmann Gast eines Pastorenkonvents in Ahrensbök, wo wir mehrere Stunden sehr nachdenklich über genau diesen Kern der Gewissensentscheidung der Abgeordneten im Hinblick auf den Afghanistan-Einsatz diskutiert und uns ausgetauscht haben.
Ich selbst prüfe vor einem "Ja" zu Auslandseinsätzen mein Gewissen stets vor allem darauf, ob ich meine Entscheidung vor den Soldatinnen und Soldaten, die in den Einsatz gehen, und ihren Familien verantworten kann. Ich frage mein Gewissen aber auch, ob ich ein "Nein" eigentlich verantworten könnte - nicht nur gegenüber den in diesen Krisengebieten auch eingesetzten deutschen zivilen Sicherheitskräften und Entwicklungshelfern sondern auch gegenüber der heimischen Bevölkerung, die sich in großer Mehrheit nach Stabilität und einer Zukunftsperspektive sehnt, und deshalb dem bevorstehenden schrittweisen Abzug der internationalen Soldaten teils mit Sorge entgegensieht. Und schließlich denke ich bei meinen Entscheidungen auch an den Grundsatz der internationalen Solidarität, dem sich die SPD seit 150 Jahren verpflichtet fühlt.

Um Ihre Fragen abschließend zu beantworten: Die Abstimmung am 16. November 2001 war eindeutig mit dem Grundgesetz vereinbar. Auch angesichts einer Vertrauensfrage war allen Abgeordneten selbstverständlich ein Abstimmungsverhalten gemäß Artikel 38 GG möglich. Weder Bundeskanzler noch Fraktionsvorsitzende können Mitglieder ihrer Fraktionen anweisen, mit "Ja" oder "Nein" zu stimmen. Die Zustimmung zum Regierungsantrag implizierte damals ebenso wie heute und ebenso wie die Ablehnung des Antrags eine verantwortungsvolle und persönliche Auseinandersetzung mit dem Für und Wider des entsprechenden Auslandseinsatzes, aus der am Ende eine Entscheidung auf Grundlage des Gewissens des oder der Abgeordneten folgt.

Mit freundlichen Grüßen
Bettina Hagedorn

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