Frage an Bettina Hagedorn von Dagmar S. bezüglich Außenpolitik und internationale Beziehungen
Sehr geehrte Frau Hagedorn,
zu
http://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/index.html
Dort wird über die schlechte Sicherheitslage berichtet. Ist zu erwarten, dass nach dem Abzug der Kampftruppen noch deutlicher wird, dass die NATO ihre Ziele nicht erreicht hat?
Beispiel: Gibt es heute mehr oder weniger Terrorismus in der Welt als zu Beginn des Krieges?
Wussten Sie bei Ihren Stimmabgaben für den Afghanistaneinsatz, dass Terroristen weltweit Stützpunkte haben?
Werden Sie die Angehörigen der toten Soldaten und der afghanischen Opfer öffentlich bitten, Ihr Stimmverhalten im Bundestag zu entschuldigen?
Mit freundlichen Grüßen
Dagmar Sievertsen
Sehr geehrte Frau Sievertsen,
vielen Dank für Ihr Schreiben vom 15. August zum Afghanistan-Einsatz, den Sie offenbar für falsch halten. Konkret möchten Sie wissen, ob ich mich bei den Angehörigen der toten Soldaten und der afghanischen Opfer öffentlich für mein Stimmverhalten im Deutschen Bundestag entschuldigen werde. Dazu muss ich Ihnen sagen, dass ich weder bei meinen Besuchen in Afghanistan, als ich mir im Mai 2006 sowie im September 2008 in Kabul, Kunduz und Masar-I-Sharif ein Bild von der Situation der afghanischen Bevölkerung wie auch von der Lage der deutschen Soldatinnen und Soldaten und der dort eingesetzten Polizistinnen und Polizisten machte, noch bei meinen vielfältigen Kontakten zu Soldaten, die vom Standort Eutin aus seit Jahren in Afghanistan-Einsätzen waren, und ihren Angehörigen die Erwartungshaltung erlebt habe, dass diese Betroffenen von mir eine Entschuldigung erwarten. Der Bundestag hat seit über 12 Jahren mit stets sehr breiter, parteiübergreifender Mehrheit der Bundestagsabgeordneten von CDU/CSU, SPD, Grünen und FDP Jahr für Jahr diesen Afghanistan-Einsätzen, die auf einem UN-Mandat beruhen, zugestimmt. Ich bin stolz darauf, dass wir in Deutschland eine "Parlamentsarmee" haben und dass deutsche Soldaten nur dann in einen Auslandseinsatz geschickt werden können, wenn der Deutsche Bundestag dieses mit Mehrheit (in namentlicher Abstimmung) beschließt. Für die Soldaten ist es in ihrem verantwortungsvollen und gefährlichen Auslandseinsatz ein wichtiger Rückhalt, dass Parlament und breite Bevölkerungsschichten hinter ihnen stehen. Uns Abgeordneten stehen hervorragende, differenzierte Informationsquellen zur Verfügung, die alle Abgeordneten ernsthaft zur Entscheidungsfindung nutzen. Niemand von uns macht sich die Entscheidung leicht. Ganz klar ist: Wir haben für Afghanistan eine gemeinsame Verantwortung und als
Abgeordnete sind wir zuvorderst unserem Gewissen verpflichtet. Im Bundestag ist über alle Fraktionsgrenzen hinweg unumstritten, dass jede Abstimmung über Auslandseinsätze im Parlament eine reine Gewissensentscheidung ist, die jeder Abgeordnete für sich selbst treffen muss. Ich versichere Ihnen, dass sich kein Bundestagsabgeordneter die Entscheidung, deutsche Soldaten ins Ausland zu entsenden, leicht macht. Meine Kolleginnen, Kollegen und ich sind uns unserer Verantwortung sehr bewusst und darum tragen wir selbstverständlich auch für alle Opfer einer solchen Entscheidung eine persönliche Verantwortung, zu der ich mich ausdrücklich bekenne. Am 9. März 2011 war ich auf Einladung von Propst Wiechmann Gast eines Pastorenkonvents in Ahrensbök, wo wir mehrere Stunden sehr nachdenklich über genau diesen Kern der Gewissensentscheidung der Abgeordneten im Hinblick auf den Afghanistan-Einsatz diskutiert und uns ausgetauscht haben.
Ich selbst prüfe vor einem "Ja" zu Auslandseinsätzen mein Gewissen stets vor allem darauf, ob ich meine Entscheidung vor den Soldatinnen und Soldaten, die in den Einsatz gehen, und ihren Familien verantworten kann. Ich frage mein Gewissen aber auch, ob ich ein "Nein" eigentlich verantworten könnte – nicht nur gegenüber den in diesen Krisengebieten auch eingesetzten deutschen zivilen Sicherheitskräften und Entwicklungshelfern sondern vor allem gegenüber der heimischen Bevölkerung, die sich in großer Mehrheit nach Stabilität und einer Zukunftsperspektive sehnt, und deshalb dem bevorstehenden schrittweisen Abzug der internationalen Soldaten teils mit Sorge entgegensieht. Und schließlich denke ich bei meinen Entscheidungen auch an den Grundsatz der internationalen Solidarität, dem sich die SPD seit 150 Jahren verpflichtet fühlt.
Sie haben zwar recht, die Sicherheitslage ist bedenklich und wir alle hätten uns natürlich eine schnellere, reibungslosere Reorganisation von Rechtstaatlichkeit und funktionierenden staatlichen Strukturen in Verwaltung, Justiz und bei den Sicherheitskräften gewünscht. Aber angesichts der Jahrzehnte von Krieg, Despotentum, Clanwirtschaft und Terrorismus in Afghanistan war die Herausforderung eben auch gewaltig. Das internationale Engagement hat jedoch die Bedingungen für die Menschen in Afghanistan – insbesondere auch für Frauen – eindeutig verbessert. Indem wir in Infrastruktur, Bildung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie investieren, entziehen wir dem – wie Sie richtig anführen – global operierenden Terrorismus in Afghanistan den argumentativen Nährboden.
Ihre Frage, ob es heute mehr Terrorismus gibt als zu Beginn des Afghanistaneinsatzes, lässt sich schwer beantworten. Terrorismus gibt es überall auf der Welt, er ist jedoch sowohl hinsichtlich der Zielsetzung als auch in Bezug auf die Organisationen, die jeweils hinter terroristischen Aktivitäten stehen, vielschichtig. Niemand ist in den Afghanistaneinsatz gegangen mit der Zielsetzung, die vielköpfige Hydra „globaler Terrorismus“ mit einem Schlag zu erledigen – es sind aus meiner Sicht jeweils der regionalen Situation angemessene Lösungsansätze notwendig.
Frank-Walter Steinmeier hat sich bereits 2008/2009 als Außenminister für eine Abzugsperspektive und damit für einen Strategiewechsel in Afghanistan stark gemacht. Innerhalb der SPD hat sich eine Arbeitsgruppe von 25 SPD-Abgeordneten aus Entwicklungshilfe-, Innen-, Außen-und Verteidigungspolitikern unter Einbindung von sehr viel externem Sachverstand seit Oktober 2006 mit den erforderlichen Rahmenbedingungen für einen solchen schrittweisen Abzug beschäftigt und dazu sehr viel beachtete Konzepte entwickelt. Aus unserer Sicht soll und muss die Verantwortung für die Geschicke des Landes Stück für Stück wieder in die Verantwortung der Afghanen übergehen. Daher haben wir uns bereits früh – und deutlich vor der Kanzlerin und ihrer Regierungskoalition – unter anderem massiv für die Ausbildung afghanischer Sicherheitskräfte eingesetzt. Die SPD steht zum Truppenabzug bis 2014, aber auch dafür, dass Deutschland seiner Verantwortung gegenüber den Menschen in Afghanistan gerecht wird und die Afghanen nach 2014 auf zivilem Wege weiter unterstützt.
Seit vielen Jahren pflege ich eine enge Beziehung zur Eutiner Rettberg-Kaserne, die regelmäßig Soldaten in den Auslandseinsatz – bspw. nach Afghanistan und in den Kosovo – entsendet. Um diese authentischen Informationen und Diskussionen in die Mitte unserer Region zu tragen und die gesellschaftliche Debatte zu versachlichen, habe ich im April 2007 eine Veranstaltungsreihe zum Auslandseinsatz der Bundeswehr ins Leben gerufen. Damals eröffnete ich mit dem anerkannten Afghanistanexperten und langjährigen Regionaldirektor der GTZ für Afghanistan und Pakistan - Hans-Hermann Dube - die Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Afghanistan – Ziviler Aufbau in einem Konfliktland“. Ihm folgte als Referent im Oktober 2007 unser damaliger Bundestagskollege im Verteidigungsausschuss Jörn Thießen unter dem Titel "Afghanistan – so viel Militär wie nötig, so wenig wie möglich: Gratwanderung im Bemühen um Stabilität". Im Oktober 2008 ging es mit Niels Annen, damals Mitglied im Auswärtigen Ausschuss, um das Thema „Afghanistan – Erwartungen der deutschen und afghanischen Politik an Wiederaufbau und Stabilität“. Die Veranstaltung im Juli 2009 mit der Kabuler Büroleiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung, Tina Marie Blohm, stand unter dem Titel „Weiblich, jung, afghanisch – Perspektiven der Frauen in Afghanistan“. Im September 2010 diskutierte ich gemeinsam mit Dr. Almut Wieland-Karimi, der Direktorin des Zentrums für internationale Friedenseinsätze, über das Thema „Internationales Engagement für Afghanistan – Kann die neue Strategie zum Erfolg führen?“. Vorerst letzter Termin in dieser Reihe war eine Diskussionsveranstaltung im Januar 2013 mit Soldaten, Ärzten und interessierten Bürgern zum schwierigen Thema: „Nach dem Auslandseinsatz – Umgang mit unsichtbaren Verwundungen“. Denn Fakt ist: Eine immer größer werdende Anzahl von Heimkehrern leidet unter Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) – leider für die Öffentlichkeit ein Tabuthema, für das ich sensibilisieren möchte. All diese Veranstaltungen waren in Eutin und sie waren öffentlich – schade, dass Sie offensichtlich nie die Chance genutzt haben, dort den direkten Kontakt zu mir oder zu Betroffenen herzustellen und dort mit zu diskutieren. Ich werde sicherlich auch nach der Bundestagswahl diese Veranstaltungsreihe fortsetzen und würde mich freuen, Sie dann dort begrüßen zu können.
Mit freundlichen Grüßen
Ihre Bettina Hagedorn